Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort
etwas über das Testament, das Scha'ul Tirosch hinterlassen hat?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Was für ein Testament?« Sie zeigte keine Angst, nur Erstaunen.
»Vielleicht hat er einmal mit Ihnen darüber gesprochen?«
Sie sei nicht an Besitz interessiert, Geld sei ihr nicht wichtig, sagte sie.
»Trotzdem: Taxen, Therapie, medizinische Behandlungen, Essen – wovon leben Sie? « fragte er und dachte an die feste Summe, die jeden Monat auf ihrem Bankkonto einging, auch etwas, was Balilati herausgefunden und bei einer der Sitzungen der Sonderkommission feierlich mitgeteilt hatte.
Sie arbeite, sagte sie, und außerdem bekomme sie einen festen monatlichen Zuschuß von ihren Eltern.
»Aber«, wandte er vorsichtig ein, »soweit ich weiß, hat Ihr Vater 1976 Konkurs gemacht, und seit seiner letzten Herzattacke arbeitet er nicht mehr.«
Sie schwieg, und er wartete. Einige Minuten vergingen, bevor er sagte: »Also wirklich, Sie haben heute schon schlimmere Dinge gesagt. Wenn Sie keine Beziehung zum Geld haben, dann dürfte es Ihnen doch nicht schwerfallen, darüber zu sprechen.« Es gelang ihm nicht, die Ungeduld in seiner Stimme zu verbergen.
Sie schluckte und erklärte dann verwirrt, daß die Wohnung auf ihren Namen laufe, daß es ihrem Vater gelungen sei, »vor dem Ruin« Geld nach Amerika zu schaffen, »eine große Summe, ich weiß nicht genau, wieviel, aber ich lebe von den Zinsen, und obwohl mein Vater sagt, daß das nie rauskommt, schaffe ich es kaum, mit dieser Gesetzesübertretung zu leben«.
Michael legte eine Kopie des Testaments vor sie auf den Tisch. Erst betrachtete sie es verständnislos, dann vertiefte sie sich in das Dokument, und zum Schluß hob sie das Papier mit zitternden Händen hoch und hielt es sich dicht vor die Augen, bevor sie es wieder auf den Tisch legte. Sie wühlte in ihrer Ledertasche und zog ein Etui mit einem viereckigen, schwarzen Brillengestell heraus. Sie setzte die Brille auf und las das Schriftstück noch einmal. Dann ließ sie das Blatt sinken, legte die Brille jedoch nicht zurück in das Etui. Die Brille ließ sie erwachsener aussehen, intelligenter, ihre blauen Augen bekamen einen klaren, konzentrierten Blick. Es war unmöglich, den Zorn in ihrem Gesicht zu übersehen. Wieder verzog sich ihr Mund, eine Bewegung, die er nun schon kannte.
»Sie haben nichts davon gewußt?« fragte Michael und legte das Schriftstück zurück in den braunen Umschlag, ohne den Blick von ihr zu wenden.
Sie schüttelte den Kopf. »Aber das wundert mich nicht, überhaupt nicht«, sagte sie und brach in Tränen aus.
»Warum weinen Sie?«
Sie schüttelte den Kopf. »Das verstehen Sie nicht.«
Michael seufzte. »Dann erklären Sie es mir doch. Vielleicht kann ich es verstehen, wenn Sie es mir erklären.«
»Er konnte mir noch nicht mal meinen Haß lassen. Er mußte einen Akt vollbringen, der edel aussieht. Typisch! Wie immer hat er nicht an mich gedacht, sondern nur an sich selbst, trotz dieser Sätze, mit denen er seine Achtung vor mir ausdrückt. Wer soll mir glauben?«
Im Zimmer blieb es lange still.
»Ich fürchte«, sagte Michael und beugte sich vor, »wir müssen noch eine Detektorbefragung machen, vielleicht ist das Ergebnis diesmal anders, schließlich wissen wir jetzt genau, was wir fragen müssen. Sie brauchen keine Angst zu haben, vorausgesetzt, Sie sagen die Wahrheit.«
Sie habe keine Angst, sagte sie, sie sei dazu bereit, man solle ihr nur glauben.
»Wir teilen Ihnen noch den genauen Termin mit. Sie müssen sich aber im klaren sein, daß Sie diesmal zu Dingen befragt werden, die weh tun. Über die Ehe, die Scheidung, die Schwangerschaft, die Gedichte, das Testament – das werden die Themen sein. Niemand will Sie demütigen, wir ermitteln nur in einem Mordfall, in zwei Mordfällen.«
Sie nickte und fragte hoffnungsvoll: »Ist das alles? Sind wir jetzt fertig?«
»Für heute sind wir fertig«, sagte Michael und stand auf. Seine Hände und seine Beine zitterten, als habe er etwas Schweres getragen.
Sie streckte die Hand nach der schwarzen Mappe aus. »Ich fürchte, die muß einstweilen hierbleiben«, sagte Michael entschuldigend.
»Aber Sie dürfen sie niemandem zeigen«, bat sie ängstlich. Er ging zur Tür, sie folgte ihm zögernd. Ein paarmal drehte sie sich noch um und warf einen Blick auf die Mappe mit den Gedichten, die auf dem Tisch liegengeblieben war.
Neben der Tür stand Klein mit dem Gesicht eines Menschen, der seine Tochter den Händen eines brutalen Arztes
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