Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort
wir uns was zu trinken verdient«, sagte Klein und stellte Michael, der an dem Holztisch saß, ein Glas hin. In dem Glas waren Zitronenstücke und Minzeblätter.
Michael wußte selbst nicht, warum er plötzlich fragte: »Wie haben Sie sofort erkannt, daß die Gedichte schlecht sind?«
»Haben Sie selbst es nicht gemerkt?« fragte Klein und schnitt dicke Scheiben von einem dunklen Laib.
»Doch, aber was müßten sie haben, um gut zu sein?« beharrte Michael, und schon wußte er, daß er die Stimme des Lehrers von früher hören wollte. Er wollte weg von der ständigen Aufmerksamkeit des Polizisten, wollte nicht mehr auf die kleinsten Nuancen in einem Gespräch achten, er wollte sich ausruhen.
»Unter anderen Umständen würde ich Ihnen die Kriterien erklären«, sagte Klein und schlug mit geübter Hand drei Eier in eine kleine, weiße Schüssel. »Doch das interessiert Sie im Moment bestimmt nicht.«
»Ja und nein«, bekannte Michael, »das war heute eigentlich nicht mein Thema. Aber wenn wir nun gerade dabei sind: Ich wollte schon immer verstehen, was ein Gedicht eigentlich haben muß, damit es gut ist.«
»Sie wollen einen Vortrag über Lyrik hören? Jetzt?« Klein warf ihm einen Blick zu, dann legte er ein Stück Margarine in eine Pfanne. Michael konnte nicht sehen, was für ein Gesicht er machte. Klein kippte die Eier in die Pfanne, streute geriebenen Käse darüber und stellte das Gas kleiner. »Sind Sie bereit, Brote zu schmieren?« fragte er und legte, ohne eine Antwort abzuwarten, die Scheiben vor Michael auf den Tisch, dazu ein Messer und die Butter. Er selbst begann damit, den Salat zu schneiden.
»Wie würden Sie reagieren, wenn ich Sie fragen würde, ob der Mensch den Ablauf der Geschichte bestimmt oder ob der Ablauf der Geschichte das Leben des Menschen bestimmt? Übrigens, das ist eine Frage, die mich sehr beschäftigt. Mit anderen Worten, ich bin bereit, einiges zu sagen, unter der Bedingung, daß Sie nicht vergessen, daß meine Ausführungen unter diesen Umständen mehr oder weniger oberflächlich sind«, warnte Klein, während er eine Zwiebel schälte. »Das ist ein Thema für ein langes Seminar. Die größten Ästhetikphilosophen haben sich damit beschäftigt.«
Michael nickte, doch Klein fing schon an zu sprechen: »Erstens muß man verstehen, daß das, was gesagt wird, letztlich einer gewissen Subjektivität unterworfen ist, einer bestimmten subjektiven Sicht. Das soll nicht heißen, daß jeder Leser ein Gedicht auslegen kann, wie es ihm paßt, sondern daß es gewissen universellen Maßstäben unterworfen ist.« Seine Stimme nahm einen didaktischen, fast autoritären Ton an. Er schnitt eine Gurke in dünne Scheiben und sagte: »Die Kriterien sind abhängig vom Kontext, sie setzen voraus, daß die Leser mehr oder weniger aus dem gleichen kulturellen und politischen Umfeld stammen.«
Wieder nickte Michael. Doch Klein stand mit dem Rükken zu ihm und nahm diese Bestätigung nicht wahr.
»Die Gedichte, die Sie gelesen haben, die Gedichte von Ja'el, sind deshalb schlecht, weil ihnen einiges fehlt.« Klein ging zum Herd, drehte das Ei um und deckte den Tisch. Er legte seinem Gast die Hälfte des Omelettes auf den Teller und setzte sich dann ihm gegenüber an den großen Tisch, der schon bessere Tage gesehen hatte. Zwischen ihnen stand die Salatschüssel. Zwiebelscheiben und griechische Oliven zierten die Gurken- und Tomatenwürfel.
Klein biß in das Brot und fuhr fort: »Das Verständnis eines guten Gedichts verlangt eine fast kriminalistische Fähigkeit, die in der Wissenschaft oft hermeneutisch genannt wird. Das heißt, ein gutes Gedicht ermöglicht dem Leser das Abenteuer, es zu entdecken, zu entziffern, die versteckte Bedeutung herauszufinden, die ihm um so klarer wird, je mehr er sich in das Lesen vertieft. Dieser Prozeß wird im Gedicht durch bestimmte Dinge möglich gemacht – Dinge, die es übrigens nicht nur in der Literatur gibt, sondern bei jedem künstlerischen Werk. Das erste ist, was man Symbolisierung nennt, das heißt, die Verwendung von Begriffen oder Bildern, die in ihrem Inhalt auf einen anderen Begriff oder ein anderes Bild anspielen oder verweisen. Möchten Sie auch Kaffee?«
Klein tauchte sein Brot in die Salatsoße, bevor er es aß, dann stellte er in einem Elektrotopf, der am Rand der Arbeitsplatte aus Marmor stand, Wasser auf. »Verstehen Sie«, sagte er, als er sich wieder setzte, »wenn Alterman sagt: ›Deine Ohrringe, tot in einem Sarg‹, hört der Leser auch
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