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Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort

Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort

Titel: Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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nach Hühnersuppe nicht, der immer hinter ihr herwehte und der jeden, der sie nicht kannte, überraschte, wenn er ihre intelligenten Kommentare hörte, die sie immer und zu jedem Thema von sich gab.
    »Ich habe Bialiks Gedicht unter anderem deshalb vorgelesen, um die Frage zu stellen, ob ein Werk wie dieses noch immer ästhetischen Kriterien genügt. Irren wir uns vielleicht, wenn wir ganz selbstverständlich davon ausgehen, daß ein Gedicht grundsätzlich auf authentische Weise dem Schaffensprozeß Gestalt gibt? Ist seine Authentizität, wie sie sich darstellt, Teil seiner Qualität? Ist das Bild des Steinhauens, das wir alle als metaphorisch betrachten, wirklich authentisch?« sagte Tirosch und nahm einen langen Schluck aus seinem Glas mit Wasser, bevor er das Wort »authentisch« betonte. Im Saal war schon ein leises Murmeln zu hören.
    Die Leute sahen einander an und lehnten sich in ihren gepolsterten Stühlen zurück. Dawidow gab, wie Ruchama bemerkte, dem Fotografen ein Zeichen, und dieser richtete die Kamera auf das Publikum. Hinter sich hörte sie das Kratzen des Füllers: Aharonowitsch machte begeistert Notizen. Die schmalen Augenbrauen Sarah Amirs hoben sich, und eine Falte erschien über ihrer Nasenwurzel. Die Studentin zu ihrer Linken schrieb eifrig. Ruchama selbst verstand die Aufregung nicht, doch das war nichts Neues. Noch nie hatte sie die leidenschaftlichen Reaktionen der Fakultätsmitglieder und ihren Anhängern auf derartige Fragen verstanden.
    Dr. Schulamit Zelermaier, die gegenüber von Ruchama in der ersten Reihe des Halbkreises saß, hatte schon bei den ersten Worten zu lächeln begonnen, ein halbes Lächeln. Sie hatte, wie üblich, das Kinn aufgestützt, der Ellenbogen ruhte auf dem Knie. Ihre ungekämmten grauen Locken ließen sie bedrohlicher und männlicher aussehen als sonst, trotz des femininen Kostüms, das sie trug. Sie wandte den Kopf nach rechts, und ihre Brillengläser blitzten im Licht der Neonlampen.
    »Ich wollte eine Diskussion über ein Gedicht entfachen, dessen kanonische Bedeutung niemals in Frage gestellt wurde«, fuhr Tirosch fort – und wieder wurde im Publikum gelächelt – »denn es wird Zeit«, – er zog die Hand aus der Tasche und schaute Dawidow direkt an – »daß in den Seminaren des Fachbereichs offen über umstrittene Themen diskutiert wird, Themen, die wir nicht anschneiden, weil wir Angst haben. Wir vermeiden es, sie nach objektiven theoretischen Kriterien zu beurteilen, denn oft haben sie keinen wirklichen Inhalt und vertreiben häufig genug unsere besten Studenten gähnend aus diesem Saal.« Die junge Frau neben Ruchama schrieb noch immer jedes Wort mit.
    Wieder vergaß Ruchama, auf die Worte zu achten, sondern lauschte nur der Stimme, die sie mit ihrem weichen Klang einhüllte, mit ihrer Musikalität, ihrer Süße. Es gibt Dinge, dachte sie, die eine Kamera oder ein Aufnahmegerät nie im Leben festhalten können.
    Solange sie ihn kannte, seit zehn Jahren, verzauberte sie die Stimme dieses Mannes, des Literaturtheoretikers und Kritikers, Mitglied der berühmtesten Akademie der Welt und »einer der größten zeitgenössischen Dichter Israels«, wie die Meinung der Literaturkritiker seit Jahren in seltener Übereinstimmung lautete.
    Wieder hatte sie den Impuls, aufzustehen und öffentlich zu verkünden, daß dieser Mann ihr gehörte, daß sie vorhin aus seinem Bett gestiegen war, in seinem gewölbten, dämmrigen Schlafzimmer, daß sie die Frau war, mit der er gegessen und getrunken hatte, bevor er hierhergekommen war.
    Sie blickte sich um, betrachtete die Gesichter der Leute. Der Saal war in das gleißende Licht der Scheinwerfer getaucht.
    »Ich werde über Bialik sprechen. Das wird sie wachrütteln«, hatte sie ihn vorhin mehr zu sich selbst sagen hören, als er seine Einführung vorbereitete. »Niemand wird auf die Idee kommen, daß ein solcher Abend ausgerechnet mit Bialik eröffnet wird, und der Überraschungseffekt ist die Hauptsache. Sie glauben, daß ich ein zeitgenössisches Gedicht lesen werde, aber ich werde ihnen beweisen, daß auch Bialik überraschen kann.«
    Stürmischer Beifall war im Saal zu hören, als er seinen Vortrag beendet hatte. Sie konnte sich ja später die Aufnahme im Radio anhören, beruhigte Ruchama sich selbst, als ihr klar wurde, daß die Einführung zu Ende gegangen war, während sie in Gedanken die Bilder dieses Nachmittags an sich hatte vorbeiziehen lassen, und die eines anderen Nachmittags, und die von der Nacht letzte Woche,

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