Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort
und die Bilder ihrer gemeinsamen Reise nach Italien. Sie hatte daran gedacht, daß es nächste Woche drei Jahre sein würden, die sie zusammen waren, drei Jahre waren vergangen, seit er sie zum ersten Mal im Fahrstuhl des Hauses Maiersdorf geküßt hatte und ihr dann in seinem Büro gesagt hatte, daß er trotz der vielen Frauen in seinem Leben immer nur sie gewollt habe, jedoch nicht geglaubt hatte, daß sie sich für ihn interessiere. Ihre stadtbekannte Reserviertheit habe ihn von dem Versuch abgehalten, bis zu ihr durchzudringen. Er habe auch angenommen, ihre Zuneigung zu Tuwja mache sie unerreichbar.
Wieder sah sie verträumt auf seine Hand, die das offene Buch hielt, auf seine langen, braunen Finger. Der Chamsin, der heiße Wind aus der Wüste, der an diesem Abend schwer und trocken über Jerusalem hing, so wie es nur hier möglich war, hatte ihn nicht davon abgehalten, wie immer einen dunklen Anzug anzuziehen. Und natürlich trug er in der Brusttasche die übliche rote Nelke, die ihm, zusammen mit dem Anzug und der silbernen Haartolle, dieses europäische, kosmopolitische Aussehen verlieh, das so viele Frauen erobert hatte und ihn zu einer Legende hatte werden lassen.
»Wer wäscht ihm die Hemden?« hatte Ruchama einmal eine Studentin fragen hören, die zusammen mit anderen in einer langen Schlange vor seinem Zimmer auf den Beginn der Sprechstunde wartete. »Wie schafft es ein Mann, der allein lebt, so auszusehen?« fragte sie, als er an den Studenten vorbei in seinem Zimmer verschwunden war. Ruchama hatte die Antwort nicht mehr gehört, denn sie war hinter ihm hergeeilt, um den Schlüssel, den Schlüssel zu seiner Wohnung, zu holen, wo sie auf ihn warten würde, wenn seine Sprechstunde vorüber war.
Nie hatte irgendeiner seiner Studenten gewagt, ihm irgendeine persönliche Frage zu stellen. Sogar sie wußte die Antworten auf solche Fragen nicht, obwohl sie, ebenso wie die wenigen anderen, denen es gestattet war, in seine Privat-räume vorzudringen, wie zum Beispiel Tuwja, wußte, daß er die roten Nelken in dem kleinen Kühlschrank aufbewahrte, jede Blüte einzeln mit einer Sicherheitsnadel versehen, fix und fertig zum Anstecken.
Seine Aufmerksamkeit für kleine Details entzückte sie. jedesmal wenn sie in seiner Wohnung war, öffnete sie schnell seinen Kühlschrank, um zu sehen, ob sie noch immer da waren, die roten Nelken in der durchsichtigen Vase. Nie sah sie andere Blumen in seiner Wohnung, er besaß noch nicht einmal eine zweite Vase. Ihre Frage, ob er Blumen liebe, hatte er verneint. »Nur künstliche«, hatte er gesagt und gelächelt, »oder ganz lebendige, wie dich zum Beispiel.« Jede weitere Frage verhinderte er mit einem Kuß. Die wenigen Male, die sie gewagt hatte, ihn direkt auf sein theatralisches Benehmen anzusprechen, auf seine Art, sich zu kleiden, die Nelken, die Krawatte, die Manschetten, das weiße Hemd, bekam sie keine ernsthafte Antwort. Immer machte er einen Scherz oder fragte sie, ob sie seine Erscheinung nicht möge, und nur einmal sagte er explizit, er habe aus Spaß damit angefangen, eine Nelke zu tragen, und betrachte es heute als eine Art Verpflichtung gegenüber seinem Publikum.
Tiroschs Akzent verriet nicht, daß er nicht in Israel geboren war. »Geboren in Prag« stand im Klappentext seiner Bücher, von wo er vor fünfunddreißig Jahren nach Israel emigriert war. Er erzählte ihr von Prag, »der schönsten Hauptstadt Europas«. Nach dem Krieg war er mit seinen Eltern nach Wien gegangen. Über den Krieg sprach er nie. Er erzählte niemandem, wie sie die Nazis überlebt hatten, er und seine Eltern, noch nicht einmal, wie alt er gewesen war, als sie Prag verlassen hatten. Nur über die Zeit davor oder danach war er bereit zu sprechen. Von seinen Eltern hatte er einmal gesagt: »Sie waren sensible und geistvolle Menschen, die noch nicht einmal den Umzug nach Wien überlebt haben, edle Seelen.« In ihrer Vorstellung sah sie eine schlaksige, dunkle Frau, seine Mutter, mit knisternden Seidenkleidern, die sich über die Silhouette eines Kindes beugte. Tirosch als Kind konnte sie sich nicht richtig vorstellen, nur als eine verkleinerte Ausgabe, als eine Miniatur seiner heutigen Erscheinung. Sie sah ihn vor sich, wie er auf englischem Rasen zwischen duftenden Blumen spielte. (Sie selbst war nie in Prag gewesen, auch nicht in Wien.) Von seiner Kindheit erzählte er nur einige wenige Einzelheiten. In einer der seltenen Minuten von Offenheit, als sie sich über seine Reinlichkeit und
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