Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort
dann. Wenn sie ihm nicht gefallen – dann gnade ihnen Gott. Wenn Tirosch einen Dichter ›mittelmäßig‹ nennt, dann sollte dieser sich in Sack und Asche kleiden und sein Glück anderswo suchen. Einmal habe ich mitbekommen, wie dieser edle Mensch einen demütigen Bittsteller ohne Gnade abgewiesen hat. Mit unbewegtem Gesicht und steinernen Augen hat er verkündet: Junger Mann, das ist es nicht. Sie sind kein Dichter, und Sie werden vermutlich nie einer sein.‹ Ich frage euch: Woher weiß Tirosch das? Ist er ein Prophet?« Er wandte sich an Tuwja, seine Augen wurden noch röter, und seine Spucke sprühte bis zu Ruchama, als er rief: »Du wirst nicht drauf kommen, um wen es sich gehandelt hat.« Dann nannte er den Namen eines ziemlich bekannten Dichters, dessen Gedichte Tuwja nie besonders beeindruckt hatten.
»Dann war da noch die Geschichte mit dem Sonett, kennst du sie?« Aharonowitsch wartete die Antwort nicht ab, es war unmöglich, ihn zu bremsen.
»Nachdem Jecheskels erstes Buch erschienen war, hat man ihm zu Ehren zu einer literarischen Veranstaltung im Keller von ›Habima‹ in Tel Aviv eingeladen. Es wurden Gedichte von ihm gelesen, Reden gehalten, und dann gingen wir alle in ein Café, natürlich in das, das gerade in Mode war, wo die Dichter zu sitzen pflegten. Wir waren eine große Gruppe, auch Dichter, ich könnte euch den Namen eines Dichters nennen, dessen Gedichte Jecheskel sehr bewundert.«
»Wer?« fragte Tuwja.
»Wer schon? Der Herr, von dem wir sprechen und den du verehrst, Tirosch. Also, Jecheskel war der glücklichste Mensch auf Erden. Aber ein Mann wie unser Freund ist keiner, der einen anderen glücklich sehen und dabei den Mund halten kann, und schließlich sagt er immer die Wahrheit, das hat er sich sozusagen auf die Fahne geschrieben, und für ein Glas Kognak verkaufte er Jecheskels Erstgeburtsrecht und schrieb in kürzester Zeit zwei perfekte Sonette, erst eins und dann noch eins, und das alles nur, um zu beweisen, daß es keine große Sache ist, ein Sonett zu schreiben.«
»Einfach so, auf der Stelle?« fragte Tuwja mit unverhülltem Staunen.
»Ja, auf der Stelle, nachdem er laut Jecheskels Sonett vorgelesen hatte, mit diesem berühmten Lächeln. Und nachdem er gelächelt hatte, verkündete er: ›Für ein Glas Kognak schreibe ich ein perfektes Sonett, wie dieses, in fünf Minuten. Ja?‹ Und die Leute um ihn herum lächelten ebenfalls, und er schrieb zwei Sonette, und zwar nicht in fünf Minuten, sondern in zwei, nach allen Regeln der Kunst, und alle wußten, daß sie nicht schlechter waren als Jecheskels. Kannst du dir das vorstellen? Und wozu? Um die Leute zu beeindrucken, die er selbst ›Dichterchen‹ nennt?«
Aharonowitsch hatte Ruchama angeschaut, die es nicht schaffte, ein erschüttertes Gesicht zu machen, dann wandte er sich wieder an Tuwja und fragte: »Bist du noch immer überzeugt, daß er deine Wertschätzung verdient? Das ist doch pure Dekadenz.«
Tuwja seufzte tief und erklärte, was für ihn zähle, das sei die andere Seite der Münze: Tiroschs offensichtlicher Mut, sein Mut, sich eine Blöße zu geben. Sein Mut, bei Vorlesungen immer seine Meinung zu sagen, sein Mut, laut auszusprechen, daß der Kaiser gar keine Kleider anhat, und für seine Kurse Themen auszuwählen, bei denen andere allein bei dem Gedanken daran erbleichen würden. »Und die Tatsache, daß seine Kurse immer randvoll sind und daß er immer einen originellen Blick auf die Dinge hat, einen neuen, anderen. Diese Dinge darf man einfach nicht vergessen«, sagte Tuwja und stand auf, um noch mehr Kaffee zu machen.
»Theater, alles nur Theater«, antwortete Aharonowitsch. »Das spielt keine Rolle«, sagte Tuwja aus der Küche. »Was zählt, ist, daß er ein großer Dichter ist, wie es keinen anderen gibt, außer vielleicht Bialik und Alterman. Nicht einmal Awidan und Sach sind so gut wie er, und deshalb bin ich bereit, ihm alles zu verzeihen, oder jedenfalls vieles. Der Mann ist einfach ein Genie, und Genies sind etwas anderes. Sie unterliegen anderen Gesetzen.« Dann kam er mit dem Kaffee zurück und fing von der Prüfung an, auf die er sich schon seit zwei Wochen vorbereitete.
Das war in ihrem ersten Jahr in Jerusalem gewesen. Tuwja hatte sich für ein Jahr vom Kibbuz beurlauben lassen, um in Jerusalem bei Tirosch zu studieren; dann verlängerte er, um auch das zweite, für die Promotion erforderliche Examen zu machen. Aharonowitsch kannte er noch von früher, als er für das erste Examen gelernt
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