Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort
roten Lippen, die klassisch geformte Nase, die ihrem Gesicht etwas Aristokratisches verlieh, den Hals, der aussah, als sei er von Modigliani gemalt. Er hatte Angst, daß er kein Wort herausbringen würde.
»Sie sagt nichts«, sagte Rafi Elfandari, »nicht ohne ihren Rechtsanwalt.«
»Warum?« fragte Michael, ohne den Blick von ihr zu wenden.
»Das ist mein Recht«, antwortete sie sanft, und diese Sanftheit war ein scharfer Kontrast zu der Entschiedenheit, mit der sie die Worte vorbrachte. Tief atmete sie den Rauch der Zigarette ein, die sie in der Hand hielt. Auf ihren schmalen Fingern entdeckte er gelbe Nikotinflecken. Die andere Hand stützte den Arm. Michael warf Rafi einen Blick zu, woraufhin dieser hastig den Raum verließ.
»Wissen Sie«, sagte Michael Ochajon, nachdem er sich ebenfalls eine Zigarette angezündet und auf Rafis Stuhl gesetzt hatte, »Sie sind ein erstaunlicher Mensch.«
»Was soll das heißen?« fragte Ja'el. Ein Funke von Interesse glimmte in ihren Augen auf, und sie steckte sich eine zweite Zigarette am Stummel der ersten an.
»Einerseits werden Sie ohnmächtig, und alle kümmern sich um Sie, und andererseits sitzen Sie hier und verlangen einen Rechtsanwalt. Haben Sie etwas getan, weshalb Sie einen Anwalt brauchen?«
»Niemand stellt mir persönliche Fragen und bekommt eine Antwort. Mein Privatleben ist meine Angelegenheit.« Wieder traf ihn die Diskrepanz zwischen ihrer zarten und aristokratischen Schönheit und ihrer Entschiedenheit. Dann fühlte er, wie Wut in ihm aufstieg, und er hörte sich sagen: »Verehrte junge Dame«, seine Stimme war besonders ruhig, nach Aussagen seiner Mitarbeiter ein Zeichen, daß er wütend war, »vielleicht glauben Sie, daß wir im Kino sind, aber hier wird in einem Mordfall ermittelt. Dies ist kein französischer Film, vielleicht können Sie von der Bühne steigen? Sie wollen einen Rechtsanwalt? Einen Psychiater? Kein Problem.«
»Psychiater?« fragte Ja'el und stellte ihre Beine nebeneinander. »Was hat denn ein Psychiater damit zu tun?« Noch immer war ihre Stimme sanft. Michael wollte eine schnelle, scharfe Antwort geben, da sah er ihr Gesicht und verstand, daß er unabsichtlich einen wunden Punkt berührt hatte.
»Wir leben nicht im Mittelalter«, sagte er schließlich, »und Sie werden nicht gleich des Mordes verdächtigt, sogar wenn Sie in nervenärztlicher Behandlung sind. Von mir aus können Sie gleich jetzt Ihren Rechtsanwalt anrufen, wenn Sie einen haben, aber ich halte das schlichtweg für übertrieben. Jedenfalls in diesem Stadium.«
»Es ist keine Frage von nervenärztlicher Behandlung«, sagte sie und fing an zu weinen.
Michael Ochajon atmete erleichtert auf. Weinen war etwas, was er kannte, es war wenigstens menschlich.
Unter Schluchzen sagte sie: »Dieser junge Mann vorhin war so grob zu mir, er hat sofort gefragt, warum ich ohnmächtig geworden bin, als wäre das nicht klar, und ob ich eine Affäre mit Professor Tirosch gehabt hätte.«
»Und, hatten Sie?« fragte Michael auf gut Glück.
»Nicht wirklich«, antwortete sie.
»Was soll das heißen, ›nicht wirklich‹?« fragte Michael und schaute ihr in die Augen.
»Als junges Mädchen habe ich seine Gedichte sehr geliebt. Ich habe ihm einen Brief geschrieben und mich auch mit ihm getroffen. Als ich beim Militär war, bin ich sogar einmal desertiert und zu ihm gefahren. Damals war ich ein paar Tage bei ihm zu Hause.«
»Bis man Sie aus dem Militär entlassen hat?« fragte Michael, doch das, was aussah wie begnadete Intuition, war in Wirklichkeit nichts anderes als das Ergebnis einer Geschichte, die er einmal von einem Studienfreund gehört hatte, der in ein junges Mädchen verliebt gewesen war. Sie war damals vom Militär weggelaufen, zu Scha'ul Tirosch. Jetzt verbanden sich die beiden Geschichten, wie sich im Lauf der Ereignisse immer wieder Geschichten verbinden, und er fühlte, wie ihn das gleiche Erschrecken packte, das er in Tiroschs Zimmer gefühlt hatte.
Aber die junge Frau – jetzt erinnerte er sich auch wieder, wie der Freund ihre Schönheit beschrieben hatte – wußte nicht, woher seine Informationen stammten, und zwei dunkelrote Flecken erschienen auf ihren Wangen, als sie fragte: »Woher wissen Sie das? Aber bei euch steht ja alles in den Akten, was brauche ich da zu fragen.« Und wieder brach sie in Weinen aus.
»Ich hätte nicht gedacht«, sagte Michael Ochajon, »daß es einer Frau wie Ihnen etwas ausmacht, wenn andere davon erfahren. Ich hätte nicht
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