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Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort

Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort

Titel: Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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konnte, war das dramatischste Ereignis ihres Lebens gewesen, besonders weil sie Tirosch traf, dessen schillernde Persönlichkeit ihr Herz eroberte. Sie erkannte sofort, daß er das genaue Gegenteil von ihr war. Sie bewunderte sogar seine Art, sich zu kleiden, und als ihre Beziehungen enger wurden, fühlte sie sich oft wie die Heldin in The Purple Rose of Cairo, als öffne sich der Vorhang im Kino und der Held ihrer Träume steige vor ihren Augen von der Leinwand herab. Da sie ihre innere Welt mit niemandem teilte, noch nicht einmal mit Tuwja, blieb sie für die Fakultätsmitglieder ein Geheimnis. Die Anwesenheit dieser ruhigen, jungenhaften Person, die sich in Schweigen hüllte, immer in Begleitung von Tuwja und später auch von Tirosch, provozierte endlose Kommentare. »Man könnte dich als einen babylonischen Talmud bezeichnen«, hatte Tirosch einmal gesagt, als er sie nach ihrer Meinung zu irgend etwas gefragt und sie nur mit den Schultern gezuckt hatte.
    Es gab viele Versuche, die Mauer des Schweigens zu durchbrechen, die sie umgab, von den Fakultätsmitgliedern, von den jungen Dichtern, zu denen sie von Tuwja und Tirosch ins Tel-Aviv-Cafe geschleppt wurde. Dort nannte man sie »Schweigerin«, sogar in ihrer Anwesenheit, und auch darauf reagierte sie nur mit einem Lächeln. Nie trank sie dort etwas anderes als schwarzen Kaffee und Wodka pur, anfangs, weil sie es erregend fand, die Bestellung der Kellnerin gegenüber zu formulieren, und später, weil sie, selbst wenn sie etwas anderes gewollt hätte, glaubte, daß die einmal übernommene Rolle verpflichtend sei, und so wurde sie zur Gefangenen der schweigenden, klösterlichen Figur, die sie selbst erschaffen hatte.
    Niemand fragte sich, was Tuwja an ihr fand, aber sie fühlte, daß viele sich hartnäckig und voller Neid fragten, welche Kraft es wohl sei, die Tirosch zu ihr hinzog.
    Sie wußte selbst keine richtige Antwort darauf. Einmal sagte er zu ihr, das Farblose ihrer Persönlichkeit lasse die Farbigkeit eines anderen stärker hervortreten. Sie war nicht verletzt. Schon lange hatte sie den Verdacht, das Geheimnis ihrer Anziehungskraft sei ihre Passivität, die Tirosch als »die Möglichkeit für den, der sich in deiner unmittelbaren Nähe befindet, vor dir in voller Schärfe projiziert zu werden, wie vor einem weißen Hintergrund« bezeichnete. Auch für ihre eigenen Motive hatte sie keine Erklärung. Was verband sie mit Tuwja, was mit Tirosch, was verband sie überhaupt mit irgend jemandem, mit irgend etwas? Was war die Kraft, die sie mit einem unsichtbaren Band festhielt und zwang, weiter zu existieren? Diese Fragen blieben unbeantwortet.
    Sie war kein depressiver Mensch, sie war auch nicht gleichgültig, es fehlte ihr nur die Begeisterung, die andere besaßen. »Entfremdet« war das Wort, das die Fakultätsmitglieder wählten, wenn sie ihre Art, die Welt zu betrachten, beschreiben wollten. »Defätistisch«, hatte Tirosch einmal gesagt, als er sich bemühte, ihre Wunschlosigkeit zu interpretieren, ihre Art, von vornherein auf jedes Ziel zu verzichten.
    Erst hatte Tuwja ihrem Leben eine Richtung gegeben. Er war es, der sie ausgewählt hatte, und sie hatte sich gefügt, weil er hartnäckiger gewesen war als die anderen, die an ihrer Reserviertheit verzweifelt waren und den Kampf schließlich aufgaben. Tuwja hatte sie geführt, er hatte sie hierhergebracht, und jetzt war es Tirosch. Wenn er wolle, daß sie ihr Leben ändere, hatte sie einmal zu ihm gesagt, sei er es, der am Draht ziehen müsse. So war es bis vor zwei Monaten gewesen, bis dieser kleine Riß entstanden war.
    »Was ist los mit dir?« hatte Tirosch geantwortet, als sie ihn fragte, warum er nicht ständig mit ihr zusammensein wolle. In seiner Stimme lag ein Anflug von Erstaunen. Nie zuvor hatte Ruchama einen Wunsch oder eine Bitte geäußert.

    »Das vorliegende Gedicht, das eine Vision beschreibt«, hörte sie wieder Tuwjas Stimme sagen, und sie begriff überrascht, daß er zwanzig Minuten lang unaufhörlich geredet hatte, ohne daß sie auch nur ein Wort mitbekommen hatte, »ist ein hermetischer Text, im einfachsten, vielleicht ursprünglichsten Sinn des Wortes: Es ist aufgebaut wie ein Geheimtext, wie eine verborgene Schrift – wie die hermetische Literatur der ägyptischen Priester. Das Besondere an diesem Gedicht Tiroschs ist jedoch die Tatsache, daß dieser Geheimtext keineswegs ein Rezept für Unsterblichkeit skizziert, die Anweisungen zur Erschaffung eines Golems oder eine sphärische

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