Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort
hören können, was die Kamera festgehalten hatte: das schreckliche Zittern seiner Hände, die Schweißtropfen auf seiner Stirn, das Flattern seiner Stimme, sein Räuspern. Ruchama würde sich daran erinnern, daß er sein Glas Wasser auf einen Zug ausgetrunken hatte.
Ido Duda'i war zwar nur Doktorand, doch seine Stellung an der Fakultät war gesichert: Tirosch sagte ihm eine glänzende Zukunft voraus. Tuwja pries seine Beharrlichkeit und seinen Fleiß, und sogar Aharonowitsch sprach – in seinem ewig klagenden Ton – voller Wärme über den »klugen Studenten, in der talmudischen Bedeutung des Wortes«.
Dies war nicht der erste Vortrag, den er vor akademischem Publikum hielt, und Ruchama hatte an diesem Abend seine Aufregung auf die Anwesenheit der Fotografen und des Fernsehens zurückgeführt, obwohl Tuwja später, auf dem Heimweg, nachdrücklich behauptete: »Du kennst ihn nicht. Er interessiert sich nicht für solche Dinge, er ist ein ernsthafter Forscher, es ist Blödsinn, das Fernsehen als Grund anzuführen. Ich wußte von vornherein, daß es eine Katastrophe werden würde. Ich habe es gefühlt. Er ist nicht mehr derselbe Mensch, seit er aus Amerika zurückgekommen ist. Wir hätten ihm die Reise nicht erlauben dürfen. Er ist zu jung.«
Doch Ruchama, noch immer unter dem Eindruck des Dramas, das sich im Saal abgespielt hatte, war unfähig, aus eigener Kraft die schreckliche Verwandlung zu begreifen, die mit Ido vor sich gegangen war, außer der Tatsache natürlich, daß er Tuwjas Lehrer und Meister, seinen eigenen Doktorvater, herausgefordert und somit seine sichere Stellung in der Fakultät gefährdet hatte.
Am Anfang seines Vortrags las Ido das Gedicht eines russischen Dissidenten, dessen Werk Tirosch selbst als erschütterndes Manifest der Existenz der hebräischen Sprache in sowjetischen Straflagern herausgegeben hatte. Das Thema der Arbeit, fiel Ruchama zu ihrer eigenen Überraschung plötzlich ein, stand in Zusammenhang mit Idos Doktorarbeit, die sich mit hebräischer Lyrik in sowjetischen Straflagern befaßte.
Dann führte er mit zitternder Stimme aus, daß es drei Ebenen der literarischen Kritik gebe. »Die erste ist rein poetologisch«, sagte er, fuhr sich über die Stirn und betrachtete die Zuhörer mit ausdruckslosen Augen. »Dies ist die objektive Ebene, derer sich die Forschung bedient.« Erneut schweiften Ruchamas Gedanken ab, und als sie wieder zuhörte, fing sie folgende Worte auf: »Der subjektivste Gegenpol ist der wertende und urteilende Standpunkt. Das Gedicht, das ich vorgetragen habe, steht in der Tradition der Allusion, das heißt, es bezieht sich auf einen früheren Text, in diesem Fall auf einen klassischen, und man kann unmöglich übersehen, daß es den Rahmen des Banalen und Erwarteten in seiner vagen Darstellung Heraklits nicht sprengt.« Ido machte eine Pause und holte Luft. Dann fuhr er fort: »Schönheit, die sich leicht erkennen läßt, ist keine Schönheit.«
Im Publikum entstand Bewegung. Ruchama sah, daß Schulamit Zelermaier ihr halbes ironisches Lächeln aufsetzte, während sie mit einer Hand ständig die braunen Holzperlen befingerte, die sie um ihren dicken Hals trug. Die Studentin neben Ruchama hatte aufgehört mitzuschreiben.
»Das Gedicht schmeichelt durch Mittel des Kitsches«, fuhr Ido rasch fort. »Und in diesem Fall liegt der Kitsch hauptsächlich in der Adaption einzelner Elemente aus der symbolistischen Lyrik und der plastischen Kunst, die damit verbunden ist – der art nouveau, mit anderen Worten, der Kitsch liegt in der anachronistischen Poesie. Es ist kein symbolistisches Gedicht, sondern eine Konstruktion, die sich äußerer Elemente einer früheren Epoche bedient und mit den regressiven Neigungen des Lesers spekuliert.«
»Bravo!« rief Schulamit Zelermaier, und das akademische Publikum begann zu raunen. Das Flüstern wurde lauter. Alle wußten, wie sehr Tirosch von den Gedichten eingenommen war, die auf irgendeine Art ihren Weg zu ihm gefunden hatten und die er herausgegeben hatte. Dawidow murmelte dem Fotografen etwas zu, und dieser richtete seinen Apparat auf die Gesichter der anderen Teilnehmer: auf die gesenkten Augen Tuwjas, die Überraschung und das ärgerliche Zucken in seinem Gesicht, das sofort wieder verschwand, auf das Gesicht Tiroschs. Ruchama drehte den Kopf und sah deutlich die Sensationslust in Aharonowitschs Augen aufblitzen, das erschrockene Lächeln auf dem Gesicht Zipis, der Assistentin, und den Ausdruck ruhiger Überraschung
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