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Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort

Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort

Titel: Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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auf dem Gesicht Sarah Amirs. Die junge Studentin zu ihrer Linken machte sich weiter Notizen. Und dann fuhr Ido fort: »Zugunsten des Gedichts spricht die Tatsache, daß es in einem Arbeitslager geschrieben wurde, daß es von einem Menschen stammt, der keinen Zugang zur europäischen Kultur der letzten zwanzig Jahre hatte, der die hebräische Sprache in der Sowjetunion hinter Stacheldraht gelernt hat, und darin liegt seine Größe – in den Bedingungen, unter denen es geschrieben wurde, der Zeit, in der es entstanden ist, und so fort. Wäre das Gedicht hier geschrieben worden, bei uns, in den sechziger Jahren, hätte es dann irgend jemand für ein gutes Gedicht gehalten?«
    Die schreibende Hand links von Ruchama hielt einen Moment inne. Ruchama warf einen kurzen Blick nach hinten, dann betrachtete sie das blasse Gedicht Ido Duda'is, der jetzt das eckige Brillengestell mit den dicken Gläsern abnahm, es vorsichtig auf die grüne Decke legte und sagte: »Es versteht sich von selbst, daß ich voll und ganz der Argumentation Dr. Schajs zustimme: Dies ist eine subjektive Angelegenheit, die von den Umständen und dem Kontext abhängt, eine Sache der Wertschätzung, des Geschmacks, des Geruchs und allem, was damit zusammenhängt.« Dann setzte er seine Brille wieder auf und las Tiroschs jüngstes politisches Gedicht, das in einer Literaturbeilage im Anschluß an den Libanonkrieg veröffentlicht worden war. Es war sogar vertont worden, ein Lied mit einem traurigen Refrain, das sich in die Reihe jener bekannten Lieder einfügte, die an Gedenktagen gesungen werden. Ido las Uns ist es gleich mit trockener, monotoner Stimme.
    Ruchama gelang es nicht, sich auf die geschwollenen Sätze zu konzentrieren, mit denen Ido die zum Verständnis des Gedichtes notwendigen Erklärungen vortrug, doch die letzten Sätze ließen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: »Dies ist ein Gedicht, das seinen Inhalt denunziert. Ein politisches Gedicht darf nicht verspielt oder ironisch sein. Ein politisches Protestgedicht kann nicht zugleich seinem Thema und den intellektuellen Neigungen des Autors dienen. Dessen kultureller Reichtum ist wertlos, wenn es um ein politisches Protestgedicht geht. Die Frage ist: Wo ist hier die Kraft der lyrischen Gedichte Tiroschs? Wo die Vielschichtigkeit? Ist der Mann, der Das Mädchen mit den grünen Lippen und Der Moment, als die Schwärze die Schwärze traf geschrieben hat, derselbe Mensch, der das vorliegende Gedicht verfaßt hat?«
    Und dann sprang Tuwja auf – Tirosch, die Hände vor das Gesicht geschlagen, wie die Kamera zeigte, packte Ido am Arm, drückte ihn fast auf seinen Platz und sagte mit vor Erregung zitternder Stimme: »Herr Duda'i hat es nicht verstanden. Ich muß ihm widersprechen. Der Kontext, er hat den Kontext nicht verstanden! Der Kontext ist außerordentlich politisch; das Gedicht spielt auf alle möglichen plakativen Formulierungen an, die in Literaturbeilagen auftauchen, und verspottet sie. Es verspottet sie in ihrer eigenen Sprache.« Tuwja wischte sich mit der Hand über die Stirn und fuhr mit leidenschaftlicher Stimme fort: »Dies ist kein politisches Protestgedicht gegen den Libanonkrieg im üblichen Sinn. Im Gegenteil! Herr Duda'i hat das Wichtigste übersehen! Dies ist ein Protestgedicht gegen Protestgedichte und ihren Mangel an Realität! Das ist eine Parodie auf Protestgedichte! Und das haben Sie nicht bemerkt!«
    Ido Duda'i schaute Tuwja an und sagte mit beherrschter Stimme: »Ich denke, daß eine Parodie, die nicht als Parodie erkennbar wird, ihr Ziel verfehlt. Ich kann nur eines sagen: Falls hier ein parodistischer Zweck beabsichtigt gewesen ist, wurde er verfehlt.«
    Im Saal machte sich Unruhe bemerkbar. Professor Awraham Kalizki, der in den Augen der Fakultätsmitglieder aufgrund seiner bibliographischen Bedeutung als einziger kompetent genug erschien, ein Urteil zu sprechen, hob die Hand, richtete sich zu seiner vollen zwergenhaften Größe auf und rief mit schriller Stimme: »Man sollte die ursprüngliche Bedeutung des griechischen Wortes Parodie bedenken und es nicht auf verantwortungslose Weise benutzen.«
    Doch sein Ausruf ging in dem lauten Gemurmel unter, das im Saal entstand. Aller Augen – auch das Auge der Kamera – waren auf Tirosch gerichtet, der mit bewunderungswerter Beherrschung, wie Tuwja später sagte, die Gegner beruhigte (»Aber meine Herren, bitte, meine Herren, das ist nur ein Seminar, wozu die ganze Aufregung?«). Doch die Kamera erfaßte auch den

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