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Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort

Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort

Titel: Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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Formel. Er ist kein Schema, sondern eine Beschreibung. Mehr als das! Er ist die Beschreibung eines Blickwinkels, und der Zuhörer kann ihm folgen und das ganze Bild vor seinem geistigen Auge entstehen lassen, sich in seinem Raum und seiner Zeit bewegen, losgelöst von der Wirklichkeit, es mit Charakteren und einem Held bevölkern und es geistig und emotional und sogar gesellschaftlich und politisch erfühlen. Das Gedicht bewegt sich mit ungeheurer Spannung zwischen der Realität und der großen Sinnlichkeit des Materials einerseits und der Abstraktion und der Geistigkeit dessen, was aus ihrer Kombination entsteht, andrerseits und vor allem: zwischen dem ›Geheimnis‹ des Textes und dem ›Offenlegen‹ der Vision, die es darstellt. Der Leser befindet sich dem Gedicht gegenüber in einem Zustand ständiger Anstrengung, sein Verständnis wird permanent vervollständigt. Der Text zwingt ihn dazu, seine Beziehung zu Wörtern von Grund auf zu verändern. Und so entwickelt sich allmählich, Stufe für Stufe, das Thema: Das ist ein Gedicht über den geistigen und existentiellen Zustand der Menschheit.«
    Erstaunt stellte Ruchama fest, daß die Worte ihres Mannes über ein Gedicht Tiroschs ihr Interesse weckten, und sie erinnerte sich an eine Bemerkung Scha'uls, daß Tuwja der einzige sei, der seine Gedichte richtig interpretieren könne. Tuwja trank nun einen Schluck Wasser, und die junge Frau neben ihr bewegte die Hand, die fieberhaft jedes Wort mitgeschrieben hatte, sie setzte ihre Brille ab und putzte eifrig die Gläser, dann schrieb sie weiter, als Tuwja mit seiner Rede fortfuhr:
    »Zum Abschluß möchte ich nur noch folgendes sagen: Die Frage lautet überhaupt nicht, ob ein Gedicht gut ist, sondern: Als was und in welchem Zusammenhang ist das Gedicht gut? Das heißt, von Anfang an ist nicht die Rede vom immanenten Wert, dem ›situationsfreien Wert‹. Das gehört zu den grundlegenden Fehlern derer, die einen vollkommenen Wert in literarischen Produkten suchen. Ich sage nichts Neues, wenn ich behaupte, jede Sache, die Anspruch erhebt, irgendeinen Wert zu haben, müsse in einer Beziehung zu etwas anderem stehen. Die Forderung, den Wert in eine bestimmte Relation zu stellen, bedeutet keine Einschränkung. Im Gegenteil, die Beziehung ist es, die seine Existenz ermöglicht. Die Frage ›Als was ist dieses Gedicht gut?‹ bezieht sich auf Aspekte wie Genre, Gattung, kulturelle Tradition und die historische Entwicklung einer Sprache, außerdem auf den Bezug zwischen der Poesie eines Dichters zu seiner Zeit – also auf den kulturellen und historischen Kontext, in dem das Gedicht steht. Die Urteile ›gut‹ oder ›sehr gut‹ gelten für das Gedicht Zufälliger Ausflug ins Grab meines Herzens nur im Hinblick auf die Kriterien, die ich ausgewählt habe, um das Gedicht hervorzuheben. Diese Bewertung stammt also nicht aus ihm selbst, sie ist nicht durch Logik mit ihm verbunden. Das Wort ›gut‹ bezieht sich auf die äußeren Kontexte, zu denen ich das Gedicht theoretisch in Beziehung setze: Erst so entsteht eine kausale Verbindung zwischen der Beschreibung und der Beurteilung.«
    Dawidow beugte sich zu dem Fotografen, der etwas vor sich hin murmelte, und Ruchama sah das grüne Aufblitzen in den Augen Scha'ul Tiroschs, der ihren Mann ungeheuer konzentriert betrachtete, als wolle er keines seiner Worte überhören, sie sah auch das Gesicht Ido Duda'is, der unverhältnismäßig blaß war, ein Zeichen, daß er wegen seines bevorstehenden Vortrags aufgeregt war.
    Sarah Amir schien interessiert zuzuhören. Der Ausdruck in ihrem Gesicht wurde noch konzentrierter, als Tuwja in seinem Vortrag fortfuhr. »Deshalb«, sagte er und warf einen heimlichen Blick auf seine Uhr, »kann man meiner Meinung nach nicht über den Wert eines Werkes sprechen, weder über einen relativen noch über einen absoluten. Jedes Werk ist neu zu beurteilen, und ich habe keine Regeln für die Zukunft. Ich kann sagen, welches Werk in meinen Augen gut ist, aber ich kann nicht sagen, welches gut sein wird. Über Geschmack läßt sich streiten, über Kontexte ebenso. Mehr noch – man muß darüber streiten. Das ist alles, was man tun kann.«
    Tuwja setzte sich erschöpft auf seinen Platz, und der Schatten eines Lächelns erschien auf seinem Gesicht, als er den Applaus hörte und die Worte, die Tirosch ihm ins Ohr flüsterte, während er klatschte. Dann wurde es wieder still, als Ido Duda'i aufstand, um seinen Vortrag zu halten.
    Später würde man sehen und

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