Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort
zusammengefaßt werden. Auf diese Vorlesung habe ich das ganze Jahr hingearbeitet«, sagte er. »Warten Sie doch noch anderthalb Stunden, länger dauert es nicht. Sie können inzwischen ja mit anderen sprechen, warum brauchen Sie gerade mich so dringend? Erst gestern habe ich einen ganzen Tag bei Ihnen herumgesessen.«
»Sie sind der letzte, der ihn lebend gesehen hat«, erinnerte ihn Michael, und nach kurzem Nachdenken fügte er hinzu: »Und Sie standen ihm auch besonders nahe, wie ich immer wieder gehört habe.«
Schaj hob die Hand, dann sagte er: »Sie können mich nicht dazu zwingen, daß ich meine letzte Vorlesung ausfallen lasse. Gestern habe ich Ihretwegen schon die Übungen in Lyrik versäumt.«
»Glauben Sie denn, daß überhaupt Studenten kommen? Schließlich sind die ja auch gehörig verschreckt.«
»Sie haben mich angerufen und gefragt, ob die Vorlesung stattfindet, und ich habe ja gesagt. Wir haben beschlossen, nichts ausfallen zu lassen, weder Vorlesungen noch Prüfungen. Es ist das Ende des Jahres.«
Michael schwieg einige Sekunden, dann verkündete er: »Aber ich warte auf Sie im Hörsaal, wenn Sie nichts dagegen haben.«
»Machen Sie, wozu Sie Lust haben. Ich verstehe nur nicht, was Sie bei einer Vorlesung wollen, von der Sie nichts verstehen. Ich versuchte Ihnen zu erklären, daß es um das Verknüpfen von Fäden geht, die sich durch ein ganzes Jahr gezogen haben. Außerdem werden wir uns mit einem äußerst schwierigen Text beschäftigen, und ich weiß nicht ... Ach, machen Sie doch, was Sie wollen.«
Michael ging schweigend hinter ihm her. Sie stiegen eine enge Treppe hinunter ins nächste Stockwerk und liefen einen breiteren Flur entlang. Immer wieder tauchten völlig unerwartet Türen auf, und Michael stellte sich vor, daß sie in enge Kammern führten, aber die Tür, die Tuwja Schaj öffnete, brachte sie in einen hellen, fünfeckigen Raum, in dem eine Gruppe von Studenten saß und wartete. Ein Gemurmel erhob sich, als die Tür aufging, die Studenten starrten Michael einen Moment an, neugierig und – so schien es ihm – auch ängstlich.
Fünfzehn Personen zählte Michael, die meisten junge Frauen, zwei von ihnen trugen Kopftücher, und eine hatte die Haare nach einer Seite gekämmt und unter einem dichten Netz verborgen. Auch zwei junge Männer waren da, außerdem ein älterer Mann, der sehr müde aussah und das Kinn in die Hände gestützt hatte. Sie saßen an rechteckigen, U-förmig aufgestellten Tischen und hatten aufgeschlagene Bücher und Bibeln vor sich liegen. Michael setzte sich neben den älteren Mann, der in der zweiten Reihe saß, nicht am Tisch, sondern auf einem Stuhl, an dem eine Art Holzbrett befestigt war. Auf dem Brett lag ein dünnes Buch. Michael las den Titel: Elemente der lyrischen Dichtung.
Als Tuwja Schaj seinen Platz am Tisch des Dozenten eingenommen hatte, der in der Mitte stand, wurde der Mann neben Michael lebendig, öffnete das Buch und begann dann, in der Bibel zu blättern, die auf seinen Knien lag. Michael spähte in das offene Heft und las die Worte »Die Haare Simsons«, dann las er unter der Überschrift:
Die Haare Simsons verstand ich noch nie:
Die große Kraft, die in ihnen verborgen ist,
das Geheimnis des Gottgeweihten,
das Verbot, über sie zu sprechen,
und fortwährende Angst vor dem Verlust der Locken,
das Grauen zu jeder Stunde,
wenn Delilas streichelnde Hand sie berührt.
Hingegen verstehe ich gut die Haare von Absalom.
Denn sie sind schön wie die Sonne am hellen Tag,
wie der Mond der roten Rache,
der Mond, der vor ihm verblaßt, ist süßer
als die süßesten Düfte der Frauen,
und Ahithophel der Kalte und Böses Sinnende,
muß die Augen von ihm wenden
in der Stunde, wo er vor sich
den Anlaß für Davids Liebe sieht.
Das ist das schönste Haar in allen Königreichen,
die glänzende Rechtfertigung für jeden Aufstand und dann für den Tod.
Tuwja Schaj schaute in die Runde, sagte: »Die Vorlesung hat begonnen« und las das Gedicht laut vor. Im Raum war es ganz still. Außer seiner Stimme war kein Ton zu hören. Michael betrachtete das Gesicht des vorlesenden Mannes. Ihm fiel auf, daß es Farbe bekommen hatte, und auch seine Stimme klang nicht mehr monoton. Er liebt das Gedicht, dachte Michael, und dann wurde ihm klar, daß er auch das Unterrichten liebte.
Als er fertig war, wandte er sich an die Studenten, die dasaßen und ihn anschauten. Der sachliche Ton, mit dem er die Vorlesung begann, hinderte sie daran, spürte
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