Ochajon 03 - Du sollst nicht begehren
zurecht, aber unter anderem deshalb, weil er keine Familie habe und daher keinem Druck ausgesetzt sei. Er habe hier sogar eine Pflegemutter, Dworka, falls er sie kenne – Michael reagierte nicht –, er nehme an den Kibbuzversammlungen teil, erfülle seine Pflichten, melde sich zu freiwilligen Arbeiten, und niemand störe ihn bei seinen mystischen Zirkeln. Man bringe ihm sogar so viel Vertrauen entgegen, daß man ihm jetzt die Verantwortung für die Volontäre übertragen habe, und das sei in seinen Augen wirklich etwas Außergewöhnliches. Es sei sehr beruhigend, wenn man wisse, daß für alles gesorgt werde, daß man selbst ein kleines Rad in einem gut geölten Getriebe sei. Aber er mache sich keine Illusionen. Diese Gesellschaft habe nichts mit Gerechtigkeit zu tun.
Als Michael ihn fragte, wie er im Kibbuz gelandet sei, erklärte Dave mit absoluter Ernsthaftigkeit und ohne jede Selbstironie, daß er als Volontär gekommen sei, auf der Suche nach einem Sinn, nachdem er schon die halbe Welt gesehen hatte, Afrika, Indien und so weiter. Ihm habe das mönchische Leben gefallen, das er hier führen konnte, und die Bereitwilligkeit, mit der seine Erfindungen akzeptiert wurden, vor allem von Srulke, der seinen Versuchen mit Kakteen absolut offen und interessiert gegenübergestanden habe. Srulke sei ein ganz besonderer Mensch gewesen, von dem er, Dave, nur sagen könne, es sei ein Glück, einen solchen Mann kennengelernt zu haben. Im Schweiße seines Angesichts habe er die Erde hier zum Blühen gebracht, eine Erde, deren ursprünglichen Zustand man noch sehen könne, wenn man die Grenzen des Kibbuz überschreite. »Und Srulke hat auch sehr wenig gesprochen. Er hat sich selbst nicht mit Komplimenten überschüttet, aber er hat gewußt, was er wert war, nicht mehr und nicht weniger«, sagte Dave und erklärte, Srulke und ihn hätte eine »gegenseitige Hochachtung« verbunden. »Übrigens«, fügte er mit stoischer Ruhe hinzu, als spreche er über eine bekannte Tatsache, »übrigens glaube ich nicht, daß Srulke an einem Herzanfall gestorben ist.«
»Sondern an was?« fragte Michael erschrocken.
»Es paßte nicht zu seiner Anima, an einem Herzanfall zu sterben«, sagte Dave in entschiedenem Ton.
»Wie bitte? Von was reden Sie« fragte Michael und überlegte bereits, ob er alles andere, was Dave gesagt hatte, im Licht dieser seltsamen Aussage nun neu einordnen müsse. »Von was reden Sie, bitte?«
»Ich glaube, daß er auch an Parathion gestorben ist«, sagte Dave mit dieser tiefen, beruhigenden Stimme.
»Was bringt Sie auf diese Idee?«
Und dann kam die Erklärung, die Michael nun Schorer und Awigail unterbreitete. Dave wußte, daß Srulke mit Parathion arbeitete und an diesem Tag dabei war, die Rosenblätter gegen Läuse mit dem Gift zu spritzen – er hatte wirklich die wunderbarsten Rosensorten. Üblicherweise verdünnte er das Parathion selbst und war dabei äußerst vorsichtig. Aber von Mojsch wußte Dave, daß Srulkes Hände feucht waren, als man ihn fand, und daß er mitten in der Arbeit gewesen war. Und Dave selbst, der an den Feierlichkeiten teilnahm, hatte genau in dem Augenblick, als Srulke starb, eine Art mystisches Erlebnis gehabt, der Atem war ihm weggeblieben, er sei dem Ersticken nahe gewesen, und deshalb denke er, er habe Srulkes Tod ge fühlt und daß dieser an einer Parathionvergiftung gestor ben sei, bei einem Arbeitsunfall.
Schorer bestellte noch ein Bier. Er betrachtete Michael, dann schaute er zur Seite und sagte: »Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Am besten, ich denke mir mein Teil.«
»Nun, ich habe dich ja gewarnt«, sagte Michael, »daß das alles nicht logisch ist. Aber soweit ich sehe, hat mir die Logik bisher nicht weitergeholfen.«
»Erkläre das mal dem Gericht, wenn du einen Exhumierungsbefehl beantragst«, sagte Schorer ohne eine Spur von Lächeln.
»Entschuldigung«, sagte Awigail, »ich möchte nicht mit Gefühlen argumentieren, und ich glaube auch nicht, daß es so etwas wie Telepathie gibt. Was ich wissen will, ist fol gendes: Wenn Srulke bei der Arbeit gestorben ist, bei einem Unfall, wo war dann die Flasche? Warum hat man sie in der Mülltonne gefunden, oder besser, in dem schwelenden Müllhaufen? Man stirbt ziemlich schnell an dem Zeug, er kann die Flasche also nicht selbst dort hinge bracht haben.« Sie schaute Michael an. »Verstehst du, was das bedeutet?«
»Ja. Aber darauf gibt es keine Antwort, bevor wir nicht die wichtigste Tatsache herausgefunden haben. Und
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