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Ochajon 03 - Du sollst nicht begehren

Ochajon 03 - Du sollst nicht begehren

Titel: Ochajon 03 - Du sollst nicht begehren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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eigene Verantwortung niemandem geben durfte.
    »Sie können jemandem eine Schlaftablette oder eine Valium geben, wenn die Umstände es erforderlich machen«, hatte der Psychiater zu ihr gesagt, der die Polyklinik in Sche'ar ha-Negev führte, ein bärtiger, bebrillter Mann mit einem ernsten Gesicht. »Aber nichts Massives. Es wird immer ein Arzt von unserer Klinik dort sein, und wenn der mal weg ist oder wenn ein Notfall eintritt – sofort mit dem Krankenwagen nach Aschkelon schicken. Für alles andere warten Sie, bis der Arzt kommt.«
    Der ständige Arzt des Kibbuz, Dr. Reimer, war vor kurzem für fünfunddreißig Tage zum Reservedienst eingezogen worden, hatte man ihr erklärt, ins Gefängnis von Nablus. »So ist das mit den Ärzten«, hatte Joske geseufzt, der sie von zu Hause abgeholt und zum Kibbuz gefahren hatte. »Man sagt, sie wären die einzigen, die ihren Reservedienst bis zum letzten Tag machen, bis sie wirklich zu alt sind und nicht mehr können. Man erspart ihnen nichts. Es gibt nur einen Grund, einen Mann aus den Rängen zu entlassen, wie man sagt, und das ist ...« Er schwieg erschrocken. Sie standen an der letzten Ampel, vor der Auffahrt zur Ajalon-Autobahn von Tel Aviv nach Aschkelon, und er tat nun so, als müsse er sich auf den Verkehr konzentrieren.
    Die Klimaanlage im Transit war defekt, und die Luft war erfüllt vom Geruch nach Schweiß. Aus dem Radio kam die Stimme des Nachrichtensprechers, der verkündete, wie hoch die Luftfeuchtigkeit in der Küstenregion war. Joske, um seine Verwirrung zu überspielen, kontrollierte noch einmal, ob alle Fenster offen waren. Manche Worte, dachte Awigail, als sie sein verlegenes Gesicht sah, die man bis vor ein paar Tagen noch einfach ausgesprochen hat, haben plötzlich eine andere Bedeutung bekommen, und man kann sie nicht mehr aussprechen, ohne zurückzuschrecken.
    Awigail schloß den Medikamentenschrank. Da drau ßen, im Sekretariat, im Zimmer des Kassenwarts, an allen möglichen Ecken, trieben sich die Leute vom Psychiatrischen Zentrum von Sche'ar ha-Negev herum, Psychiater, Psychologen, Sozialarbeiter, ein Polizeipsychologe. Sie hatte sie alle beim Mittagessen getroffen, als sie eine Pause bei ihrer Arbeit machten, die sie »Krisenintervention« nannten.
    Es war Se'ew Hacohens Idee gewesen, sie alle in den Kibbuz kommen zu lassen, um, wie er verkündete, diese Dienste einmal auszunutzen, die für solche Gelegenheiten geschaffen worden waren. Er hatte heftig gegen Guta kämpfen müssen, deren Geschrei bis Aschkelon zu hören gewesen war, wie Jojo Awigail erzählt hatte. Guta hatte getobt und geschrien: »Krise! Krise! Hier gibt es keine Krise! Das war jemand von außerhalb, vielleicht von den angestellten Arbeitern, von den Straßenarbeitern, von den Volontären!«
    Jochewed unterstützte sie: »Wir brauchen keine Psycho logen«, sagte sie. »Wohin soll das führen? Schaut doch nur, wie weit es einige von uns schon gebracht hat, dieses ganze Gerede.«
    »Es gibt wirklich zuviel Gerede«, hatte Matilda zugestimmt.
    Ein Schauer lief über Awigails Rücken, als sie sich daran erinnerte, wie die drei über Se'ew hergefallen waren, wie Flamingomütter. Sie hatte einmal im Fernsehen einen Dokumentarfilm über diese häßlichen Vögel gesehen, mit der dicken Hornhaut auf den Beinen, die komplizierte Nester im Wasser bauten, um ihre Eier und später die Küken zu schützen. Damals hatte die plötzliche Erkenntnis der komplexen Mechanismen, die die Natur erfunden hatte, um das Überleben zu sichern, sie zusammenfahren lassen.
    Die Szene hatte sich unten in der Halle, vor den Treppen zum Speisesaal, abgespielt, und Awigail, die tat, als interessiere sie sich für das schwarze Brett mit den Nachrichten, hatte aufmerksam zugehört und kein Wort verpaßt. Sie hatte auch den Ton registriert, in dem die Einwände vorgebracht wurden, Gutas Wut und die selbstgerechte Gelassenheit Jocheweds. In dem Moment, als sie sich fragte, wie es wohl war, mit diesen Frauen zusammenzuleben, sie jeden Tag im Speisesaal zu sehen, und vor der Möglichkeit erschrak, von ihnen enttarnt zu werden, hörte sie ein langes »Pssst« und drehte den Kopf. Sie sah Dworka und fühlte sofort die Kraft , die sie ausstrahlte, die Macht dieses einzigen »Pssst«, das die drei anderen sofort zum Schweigen brachte.
    »Worum denn das ganze Geschrei?« fragte Dworka. »Wir wissen doch gar nichts, und Psychologen können vielleicht helfen, auf jeden Fall schaden sie nichts. Und Se'ew hat sich bestimmt etwas

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