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Ochajon 03 - Du sollst nicht begehren

Ochajon 03 - Du sollst nicht begehren

Titel: Ochajon 03 - Du sollst nicht begehren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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eine total bürgerliche Gesellschaft, man habe die Keimzelle Familie keineswegs besiegt. Der Kibbuz sei zwar, wie jeder Staat auch, eine große Familie, wenn es um Katastrophen gehe, wie jetzt, nach Osnats Tod, aber wenn es um die Freuden des Lebens gehe, zu denen ja auch Feste gehörten, seien die Mitglieder viel weniger einig. Ob das nicht auch Michael aufgefallen sei?
    Zu Daves Gunsten mußte gesagt werden, daß er sich nicht über Michaels persönliche Erfahrungen mit dem Leben in einem Kibbuz erkundigte. Konzentriert und aufmerksam goß er einen Kräutertee auf – er verzichtete immer auf das Abendessen im Speisesaal – und schnitt hingebungs voll Stücke von einem Brotkuchen, den er selbst, wie er betonte, aus Vollkornmehl und Körnern gebacken hatte. Was Jankele betraf, erklärte Michael Awigail und Schorer, der mit einem abgebrannten Streichholz etwas auf eine Streichholzschachtel kritzelte, habe er nur gesagt, er sei anders als die anderen, eine Ausnahme. »Er hat gesagt, all die Medikamente, die sie ihm gaben, würden ihm nur schaden, und das sei wieder ein Beweis für die konservative Haltung der Kibbuzmitglieder, die im Prinzip nicht bereit seien, Abweichungen des Individuums zu akzeptieren.«
    »Was soll das heißen, im Prinzip?« fragte Awigail. »Was meint er, was anders sein sollte?«
    »Dave sagt, Jankele sei völlig isoliert und habe außer zu ihm zu niemandem eine richtige Beziehung. Man würde zwar für ihn sorgen, und nicht nur seine Mutter, auch alle anderen; an Festtagen und so würden sie ihn, genau wie Dave, gut behandeln, aber im Prinzip«, Michael betonte die letzten beiden Worte, »im Prinzip würden sie abweichende Individuen nicht akzeptieren. Es gebe sogar ein lesbisches Paar dort. Im Prinzip lehnen sie Lesben ab, aber den Menschen als Person akzeptieren sie, wenn er der Gemeinschaft nützt und seine Arbeit ordentlich macht. Sie kümmern sich um ihn, aber sie isolieren ihn auch.«
    Michael wurde still, er überlegte, was noch wichtig war zu erzählen, und dabei hörte er Dave sagen: »Man kann das verachten, aber man kann auch das Schöne daran sehen, daß der einzelne sozusagen über das Prinzip siegt. Wenn man an die hochgepriesene Gleichheit denkt und an die bürgerliche Auffassung, die sich dahinter verbirgt, ist es sehr schön, daß man den einzelnen auf praktische Art akzeptiert, jenseits aller Prinzipien. Der Mensch besiegt die Ideologie, und das passiert einfach so, unausgesprochen und quasi gegen den Willen der Gemeinschaft.«
    Dave hatte gelächelt, dann war er wieder ernst geworden. »Und Jankele ist ein einsamer Mensch, emotional ist er einsam. Und die Diskrepanz zwischen körperlicher Fürsorge und allgemeiner Gleichheit auf der einen Seite und der sozialen Vereinsamung auf der anderen ist besonders hart.« Dave seufzte und goß noch einmal kochendes Wasser in die kleine chinesische Porzellankanne. »Denkt man darüber nach, stellt man fest, daß an dieser konservativen Gesellschaft etwas Primitives, Bedrohliches ist. Wegen seiner Krankheit sprechen sie Jankele so was wie Intelligenz ab, und dabei ist er ein intelligenter Kerl, er ist sogar klug und sehr gebildet, er hat viel gelesen, und wenn er keinen Schub hat, wenn er ruhig ist, hat er auch was zu sagen. Er versteht sehr viel und hat eine große Offenheit gegenüber Mystischem.«
    Dave trank einen Schluck Tee und fügte hinzu, daß auch er selbst immer bereit sei, etwas Neues auszuprobieren. Einer der zentralen Vorteile des Lebens im Kibbuz sei, sagte er, das Fehlen der Dinge, zu deren Sklaven sich die Menschen außerhalb machten. Auch hier könne man sich, was Materielles betraf, bis zu einem gewissen Grad abhängig machen, das gebe er zu, aber man müsse es nicht unbedingt. Denn das Minimum, das einem hier zur Verfügung stehe, sei mehr als genug. Er spreche aber nicht nur über das Wirtschaftliche, sagte er, sondern auch über die Eitelkeiten der anderen Welt, über Status und ähnliches. Er wolle ein reines Leben führen, erklärte Dave und stellte die Porzellankanne und kleine Tassen auf den Tisch. Hier im Kibbuz könne man das, man könne ein reines Leben führen, man könne kreativ sein und arbeiten, und es gebe gute Leute hier, nicht alle seien beschränkt. Es seien ausgerechnet die Anomalen, die ihn interessierten, vielleicht weil er selbst nicht so normal sei. Ihn selbst kümmere es nicht, anomal genannt zu werden, das sei der Preis dafür, nicht so zu sein wie die anderen, er komme ohne Bitterkeit damit

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