Ochajon 03 - Du sollst nicht begehren
so gut wie keine Beziehung miteinander. Srulke hatte sich fast nie direkt an ihn gewendet, und auch jetzt konnte sich Aharon nicht daran erinnern, je allein mit ihm gewesen zu sein.
Zum ersten Mal dachte Aharon, daß Srulke vielleicht ein sehr scheuer Mensch gewesen war und daß er ihn vielleicht deshalb nie angesprochen hatte, weil er nicht wußte, was er sagen sollte, ohne daß es gezwungen aussah, vielleicht fühlte er intuitiv, daß jede krampfhafte Zuwendung auf Aharon wie eine Lüge wirken würde, wie eine Täuschung. Mit einem schmerzhaften Stich dachte Aharon, daß Srulke mit Osnat leichter zurechtgekommen war. Er hatte zwar auch mit ihr nicht gesprochen, aber für sie immer ein warmes Lächeln gehabt. Aharon konnte sich auch jetzt noch an den konzentrierten, aufmerksamen Ausdruck auf Srulkes Gesicht erinnern, wenn sie an heißen Abenden draußen auf dem Rasen saßen und Osnat Mirjam erzählte, was sie tagsüber alles erlebt hatte.
Aharon ging im Trauerzug und spürte weder Erleichterung noch Trauer, sondern nur die Verpflichtung, Mojsch beistehen zu müssen. Er hörte nicht auf, darüber nachzu denken, welche Bedeutung es hatte, daß er ausgerechnet bei Srulkes Tod im Kibbuz war. Vor acht Jahren war er zum letzten Mal hiergewesen. Damals war Mirjam beerdigt worden, Mojschs Mutter, die nach langem Leiden verstorben war. Damals hatte er mit Osnat geschlafen, zum ersten und bis heute einzigen Mal, in der Nacht nach der Beerdigung, in dem Zimmer in der Nähe der Holzbaracken, das man ihm angewiesen hatte, nachdem es ihm nicht gelungen war, sein Auto in Gang zu bringen. Osnat hatte ihn, saubere Bettwäsche über dem Arm, zum Zimmer begleitet, das sich an der Ecke der Holzbaracken befand. Es war Winter gewe sen, und die Wettervorhersage hatte vor Bodenfrost in bestimmten Gebieten gewarnt. Er erinnerte sich noch genau, daß damals alle über die Avokadoernte gesprochen hatten, auf dem Weg zum Friedhof allerdings flüsternd. Osnat machte den kleinen Elektroofen an, den sie aus dem Kleiderschrank geholt hatte.
»Wessen Zimmer ist das?« fragte Aharon, und Osnat antwortete: »Das von Dave. Du kennst ihn nicht, ein älterer Mann, ein Junggeselle. Er ist als Freiwilliger aus Kanada gekommen und vor einem Jahr als Mitglied aufgenommen worden. Wir haben ihn zu einem Seminar über Kibbuzideo logie nach Giw'at Chawiwa geschickt.«
Aharon lachte. »Um ihn zu verheiraten?«
»Lach nicht. Glaubst du etwa, es sei angenehm, hier allein zu leben?«
»Bestimmt leichter als in der Stadt.«
»Da bin ich mir nicht so sicher«, sagte Osnat kühl, während sie die Wäsche auf das einzige schmale Bett legte und das gestärkte Laken ausbreitete. Sie trug einen schwarzen Pullover und kniff die Augen zusammen, als sie sich auf den Bettrand setzte und in dem Buch blätterte, das unten vor dem Bett lag.
»Wovon handelt es?« fragte Aharon und setzte sich neben sie.
»Keine Ahnung, irgend etwas Mystisches. Er hat es mir mal erklärt und mir auch zum Lesen gegeben, aber so was liegt mir nicht.«
Aharon lächelte. »Ist er auf dem Selbstfindungstrip?«
Osnat zuckte mit den Schultern.
»Sag mal«, sagte er plötzlich, »hast du Mirjam lieb gehabt?«
Osnat antwortete nicht sofort. Schließlich sagte sie: »Srulke mag ich lieber. Sie war keine besondere Persönlich keit ...«
»Aber sie war gut zu uns, als wir klein waren«, protestierte Aharon.
»Was heißt gut?« beharrte Osnat. »Du meinst, man hat ihr zwei Kinder von draußen vor die Nase gesetzt und sie hat für sie gesorgt, nicht wahr? Was ist daran gut? Man konnte nicht mit ihr reden, über gar nichts, und für Mojsch und Schula hat sie besser gesorgt als für uns. Auch wenn alle gesagt haben, sie wäre eine warmherzige Frau ... hat sie dir je einen Kuß gegeben?«
Aharon schwieg, er versuchte sich zu erinnern. Endlich bekannte er: »Es fällt mir einfach nicht ein.«
»Na also«, meinte Osnat. »Siehst du, was ich meine? Wenn sie es getan hätte, würdest du dich erinnern. Außerdem hatte ich immer das Gefühl, sie hätte Angst vor mir.«
»Weißt du, ich habe erst in den letzten Jahren angefangen darüber nachzudenken, wie schwer ich es damals hatte, und du bestimmt auch. Wir haben nie darüber gesprochen.«
»Na ja, Reden war nicht gerade deine starke Seite«, sagte Osnat, stand auf und legte die Wolldecke auf das Bett.
»Und Juwiks starke Seite ist es?« Aharon bemerkte die Bitterkeit in seiner Stimme. Osnat gab keine Antwort. Er betrachtete ihre blonden Locken, die
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