Ochajon 03 - Du sollst nicht begehren
wie man die Dinge sagt, daß die Panik, die Mojsch empfand, von den Tatsachen herrührte, nicht von den Worten. Aber das zu erklären war sinnlos. Er sagte: »Kommen Sie, lassen Sie uns doch erst einmal die weniger schreckliche Möglichkeit erwägen, die Frage eines Selbstmords.«
»Wer sagt denn, daß das weniger schrecklich ist?« sagte Mojsch bitter. »Vielleicht für Sie, aber nicht für mich. Ich bin mit ihr aufgewachsen. Sie ist wie meine Schwester.« Er zögerte. »War.«
»Sie ist also mit Ihnen hier aufgewachsen«, stellte Michael in fragendem Ton fest.
»Ja, wir, meine Eltern, wir waren ihre Pflegefamilie. Sie kam als Siebenjährige hierher.«
»Sie hat also bei Ihnen gewohnt?« wollte Machluf Levi wissen.
»Was heißt, gewohnt? Wir haben im Kinderhaus gewohnt, und jeden Tag um vier Uhr sind wir zum Zimmer meiner Eltern gegangen. Auch Aharon Meros. Wir sind zusammen aufgewachsen, sie sind für mich Geschwister.«
»Was wissen Sie über ihre Herkunft, ihren Hinter grund?« fragte Michael. Machluf Levi notierte die Aussagen in ein orangefarbenes Notizbuch, das er aus seiner Hemdtasche zog.
»Ihr Hintergrund«, wiederholte Mojsch. Er stand auf, ging zum Kühlschrank, nahm eine blaue Plastikkanne heraus und goß sich ein Glas Wasser ein. »Ihr Hintergrund war beschissen«, sagte er schließlich mit Zorn in der Stimme. Machluf Levi hob erstaunt den Blick von dem orangefarbenen Notizbuch.
»Sie ist als dreijähriges Kind mit ihrer Mutter aus Ungarn nach Israel gekommen, glaube ich. Ihr Vater war anscheinend tot, oder vielleicht hat sie auch keinen gehabt. Sie hieß Anna, wir haben ihr den Namen Osnat gegeben. Einen Vater hatte sie nicht. Und wenn Sie ihre Mutter gesehen hätten, wüßten Sie, von was ich spreche.«
»Ich habe gedacht«, sagte Michael erstaunt, »sie hätte keine Familie außerhalb des Kibbuz.«
»Hatte sie auch wirklich nicht. Nichts hatte sie. Ihre Mutter ist gestorben, als sie vierzehn war, aber da war sie schon hier bei uns im Kibbuz. Und was für ein Tod das war, bei einem Verkehrsunfall. Man hat sie überfahren. Sie ist über die Straße gegangen, ohne nach links und rechts zu schauen. Außerhalb von Natanja. Aber sie haben es Osnat damals nicht erzählt. Auch mir haben sie nicht gesagt, daß sie überfahren worden ist. Erst vor ein paar Jahren hat es mir mein Vater erzählt.«
»Onkel? Tanten? Andere Verwandte?« fragte Michael.
»Nichts, gar niemanden«, sagte Mojsch und zog die Nase hoch. »Alle durch die Schoah* umgekommen.« Langsam bekam sein Gesicht wieder Farbe. »Ihre Familie ist hier. Das ist ihr Zuhause.«
»Soviel ich weiß«, sagte Michael sanft, »war sie auch Kriegswitwe.«
»Ja, auch das noch. Juwik ist gefallen, vor... Wieviel Jahre ist der Libanonkrieg her?«
»Vier«, sagte Machluf Levi.
»Vier Jahre«, bestätigte Michael.
»Also ist sie seit viereinhalb Jahren Witwe«, sagte Mojsch. »Sie war mit Juwik Harel verheiratet, vielleicht haben Sie schon mal von ihm gehört.«
Michael nickte. »Der Oberstleutnant?« fragte er zur Sicherheit, und Mojsch nickte.
»Der von der Marine?« fragte Machluf Levi.
»Ja«, sagte Mojsch. »Sie hatten vier Kinder ...«, sagte Mojsch, »und Dworka, Juwiks Mutter, ist ebenfalls Witwe. Und da sagen Sie, ein Selbstmord wäre weniger schrecklich.«
»Auf lange Sicht gesehen, wenn man die Umstände hier bedenkt.«
Mojsch schwieg.
»Wir haben vor«, sagte Michael freundlich, »erst die Möglichkeit eines Selbstmords auszuschließen.« Er schaute Mojsch an, der zur Decke starrte. Einen Moment lang war Michael nicht sicher, daß er ihn überhaupt verstand. »Jedenfalls müssen wir alles über sie erfahren, was möglich ist, und dabei brauchen wir Ihre Hilfe.«
Mojsch schwieg noch immer.
»Wie viele Mitglieder hat der Kibbuz?« fragte Michael.
»Dreihundertsiebenundzwanzig«, sagte Mojsch heiser und ohne nachzudenken.
»Erwachsene?« fragte Michael.
»Mitglieder. Dreihundertundsiebenundzwanzig Mitglieder. Danach haben Sie doch gefragt. Dazu kommen die Kinder, die Angestellten und die hierher gezogenen alten Eltern von Mitgliedern.«
»Ein großer Kibbuz«, stellte Machluf Levi erstaunt fest, aber niemand reagierte auf diese Bemerkung.
»Nun, ich fürchte, wir haben keine Wahl«, sagte Michael endlich. »Wir können einem Gespräch mit der Familie nicht ausweichen.«
»Ich möchte bei diesem Gespräch nicht dabeisein«, sagte Mojsch. Seine Stimme brach.
»Sie brauchen nicht dabeizusein«, sagte Michael. »Aber bevor
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