Ochajon 03 - Du sollst nicht begehren
wissen noch nicht genug über die Ermordete, wir haben noch nicht die geringste Ahnung von einem möglichen Motiv, aber vielleicht wissen wir später, wenn wir mit Ihnen allen gesprochen haben, schon ein bißchen mehr.«
Machluf Levi wandte sich an den Arzt. »Ich habe eher zu wenig gesagt. Ich glaube, Sie haben die Gefahr noch gar nicht richtig erkannt.«
»Also, was wollen Sie?« brach es aus Mojsch heraus. »Sollen wir anfangen, uns in den Zimmern der einzelnen Mitglieder herumzutreiben?«
Machluf Levi regte sich über diese Frage nicht auf, er hatte während des Gesprächs auch kein einziges Mal seinen Ring gedreht. Er fühlte sich offenbar – untypisch für ihn, dachte Michael – sehr wohl, als er nun antwortete: »Exakt. Genau das möchten wir. Sie müssen an jeden einzelnen denken, an jede Sache, an jeden Ort. Sie müssen vorsichtig sein und zugleich die anderen beobachten.« Den letzten Satz begleitete ein erhobener Zeigefinger. Die beiden jungen Leute starrten ihn mit offenem Mund an. Schlomit hörte damit auf, zwanghaft an ihren langen Locken herumzudrehen, ihr Bruder, der Soldat, saß noch immer wie erstarrt auf seinem Stuhl.
Riki runzelte ihre glatte Stirn, legte eine Hand aufs Knie und sagte: »Ich will da nicht hineinverwickelt werden, ich verlasse den Kibbuz morgen früh. Ich werde im Speisesaal jetzt schon angestarrt, als hätte ich irgendwas Verbotenes getan.« Sie warf einen verstohlenen Blick zu den beiden jungen Leuten, dann schaute sie Dworka an, die neben ihr saß und ihr, ohne ein Wort zu sagen, eine blaugeäderte Hand auf den Arm legte.
Dworka hatte die ganze Zeit kein Wort gesagt, nur ihre Augen waren immer röter geworden. Ihre breiten Lippen waren fest zusammengepreßt, wie damals, als Michael sie zum ersten Mal gesehen hatte, nur daß sich die Mundwin kel jetzt noch weiter nach unten zogen. Die weißen, zu einem Knoten zusammengebundenen Haare, ihre graue Kleidung, ihre bewegungslose Haltung, das alles verriet eine ehrfurchtgebietende Selbstbeherrschung, und Michael fragte sich, wie er es schon früher getan hatte, ob diese Selbstbeherrschung nicht ihren Preis hatte. Er überlegte auch, welchen absoluten Wert die Fähigkeit, Gefühle spontan ausdrücken zu können, überhaupt habe. Und zugleich staunte er auch über die Gesellschaft, die Personen wie Dworka hervorzubringen imstande war, Personen, für die Selbstbeherrschung der höchste Wert war, um die eigene bedrohte und zerbrechliche Existenz zusammenzu halten. Schon zu diesem Zeitpunkt stellte er diese sozusa gen spartanische Kultur in Frage, die einen lehrte, ange sichts von Katastrophen nicht den Kopf zu beugen, son dern sich ihnen mit aller Kraft entgegenzustemmen. Dworka war die einzige Person im Raum, außer vielleicht Jojo, die ihre Selbstbeherrschung bisher gewahrt hatte, und aus Erfahrung wußte Michael, daß eine kleine Öff nung, ein einziger Spalt in dieser Selbstbeherrschung ausreichen würden, um das ganze Gebäude einstürzen zu lassen.
»Was sagst du dazu? Sag doch was!« rief Mojsch und schaute sie erwartungsvoll an. Sie antwortete nicht sofort.
»Ich habe gedacht, wir hätten schon alles gesehen«, sagte sie schließlich mit ausdrucksloser Stimme. »Du warst zu klein, vielleicht erinnerst du dich nicht, aber wer hätte damals, 1951, geglaubt, daß so etwas wie die Spaltung passieren könnte, als Ideologie und Politik die Kibbuzbewegung aufteilte. Seit damals habe ich geglaubt, wir hätten alles gesehen, zerstörte Familien, Haß. Auch zuvor hatten wir Haß gesehen, aber nun lag er offen zutage.« Sie sprach monoton, im Rhythmus eines Klageliedes, ein Wort nach dem anderen, die Melodie änderte sich nicht.
»Was sagst du denn dazu?« schrie Mojsch. »Muß man wirklich alles mitmachen? Verstehst du überhaupt, was die da sagen? Dworka! Es geht um Mord. Sie reden über einen Mord bei uns zu Hause!«
»Wir werden es durchstehen müssen«, sagte Dworka, und ihre Stimme wurde weicher, als sie Schlomit und Joaw anschaute. Dann wandte sie sich wieder Mojsch zu. »Was willst du, was soll ich sagen? Mein Leben geht dem Ende zu, ich habe nicht mehr viele Jahre zu leben.« Ihre Stimme hatte nun einen menschlicheren Klang. »Das ist deine Zukunft, deine und die der Kinder. Was aus den Fugen geraten ist, muß gerichtet werden.«
»Aus den Fugen geraten?« Michael stürzte sich auf die Formulierung, als höre er sie zum ersten Mal.
»Aus den Fugen«, wiederholte Dworka. »Es gibt einen langsamen Prozeß der Auflösung.
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