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Ochajon 03 - Du sollst nicht begehren

Ochajon 03 - Du sollst nicht begehren

Titel: Ochajon 03 - Du sollst nicht begehren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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fortfuhr: »Ich weiß nicht, was ich Ihnen sagen soll, sie war ein Teil von mir, wie eine Tochter, sogar mehr als eine Tochter.«
    »Sie können einfach drauflos reden, ganz ungeordnet«, beruhigte er sie. »Vielleicht fangen Sie mit ihrem Lebenslauf an, mit ihrer Persönlichkeit, mit den Leuten in ihrem Leben. Wir brauchen nur das Ende eines Fadens.«
    Während sie das Gesicht zum Fenster wandte und die Augen zusammenkniff, erinnerte sich Michael an das Gespräch, das er mit ihr im Sekretariat geführt hatte, an jenem Abend, als er mit Mojsch und Machluf Levi nach der Parathionflasche gesucht hatte. Dworka hatte ohne Protest ausführlich beschrieben, was sie an dem fraglichen Tag, als Osnat starb, getan hatte. Bis zwölf Uhr hatte sie unterrich tet, dann war sie zum Speisesaal gegangen. Obwohl es schon spät am Abend war, hatte sie sich, wie es wohl ihre Art war, zu ideologischen Randbemerkungen hinreißen lassen. Schon da hatte sie eine kleine Rede, bei der ihre unter drückten Gefühle durchschimmerten, über die Gründe da für gehalten, daß sie sich bemühte, so selten wie möglich in ihrem eigenen Zimmer zu kochen und zu essen.
    »Ich bin dagegen«, hatte sie gesagt, er erinnerte sich an jedes ihrer Worte, »wenn die Leute sich in ihren Zimmern verkriechen und dort essen. Die Mahlzeiten zusammen einzunehmen, auch das gehört zum Kibbuzgedanken, zu den ideologischen Werten.« Schon damals, im Sekretariat, hatte Michael gewußt, daß niemand besser geeignet war als Dworka, ihm die Kibbuz-Ideologie zu verdeutlichen, zugleich hatte er aber ein gewisses Unbehagen empfunden, so wie jetzt auch, ein starkes Bedürfnis, zu ihr vorzudringen, eine Beziehung mit ihr anzuknüpfen, ihre Achtung zu ge winnen. Als er sie dann, im Sekretariat, nach dem Speisesaal gefragt hatte, hatte sie ihm erklärt, so wie man jemandem etwas erklärt, von dem man nicht annimmt, er könne verstehen, was man meint: »Das ist Teil einer allgemeinen Veränderung, die in den Kibbuzim stattfindet. Besonders abends verzichten die Chawerim auf die gesellschaftliche Seite des Kibbuzlebens zugunsten ihrer familiären Belange.«
    Als sie über sich selbst sprach, über die kleinen Dinge ihres Alltags, hatte er das Gefühl, an etwas teilzuhaben, dessen er nicht würdig war. »Ich sündige in dieser Hinsicht auch manchmal, zum Beispiel wenn ich zu müde bin, mich noch mal aufzuraffen und nur noch einen Joghurt essen will. Eine Frau in meinem Alter ...« Sofort riß sie sich wieder zusammen. »Trotzdem achte ich darauf, möglichst immer im Speisesaal zu essen, denn dort trifft man die Chawerim, man sitzt zusammen an einem großen Tisch, man erzählt sich, was an diesem Tag alles passiert ist, man bleibt über das Alltägliche in Kontakt, denn das ist das wichtigste...« Wieder schwieg sie, als sei ihr plötzlich eingefallen, mit wem sie sprach, und ein Zweifel erschien in ihren Augen, als sie fortfuhr: »Wir sind keine entfremdete Gesellschaft, der Kibbuz ist das letzte Bollwerk der Nichtentfremdung in der heutigen Welt, die voller Schrecken ist.« Und plötzlich fügte sie hinzu: »Sie haben unseren Speisesaal ja schon gesehen.«
    Michael nickte erstaunt. »Ja, er ist sehr schön, sehr modern, mit dem Marmor und dem Porzellan und all den Verbesserungen ...«
    In Wirklichkeit sagte er nur, was von ihm erwartet wurde, deshalb wurde er auch von dem Gefühl, versagt zu haben, förmlich überspült, als sie ihm einen wütenden Blick zuwarf und ihn anfuhr: »Das ist der Punkt, genau das ist er! Weil es keinen Mangel gibt, dieser Überfluß hat etwas Korrumpierendes an sich, am Überfluß hängt ein Fluch.« Er betrachtete sie erstaunt, dann fragte er weiter, was sie am Mordtag alles getan hatte.
    Sie habe vorgehabt, sagte sie, nach dem Essen in der Krankenstation vorbeizuschauen, doch unterwegs habe sie Riki getroffen, und die habe ihr von der Spritze berichtet und gesagt, Osnat ruhe sich jetzt aus, deswegen sei sie zu ihrem Zimmer gegangen.
    »In Ihre Wohnung?« fragte Michael zögernd.
    »Bei uns nennt man das Zimmer«, sagte sie in gönnerhaftem Ton, und weil sie seine völlige Unwissenheit erkannte, ging sie ins Detail. Michael brachte seine Gesprächspartner fast immer so weit, daß sie das Gefühl hatten, er wisse zuwenig, habe aber die Fähigkeit zu verstehen, und so gaben sie ihm Informationen, ohne es eigentlich beabsichtigt zu haben. Als er jetzt mit Dworka in seinem eigenen Büro saß, in seiner eigenen Burg, sozusagen an einem Ort, an dem er

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