Ochajon 03 - Du sollst nicht begehren
letzten Besuch der Mutter hat sie mir gesagt, er sei gestorben.« Dworka öffnete die Augen wieder. »Sie bringen mich dazu, an Sachen zu denken, an die ich jahrelang nicht mehr gedacht habe. Beim letzten Besuch der Mutter hatte ich ein Gespräch mit ihr. Es war sehr schwer.« Sie atmete tief auf und nahm einen Schluck Wasser. »Osnat weigerte sich, sie zu sehen, und nichts half. Sie verbot ihrer Mutter, zum Kibbuz zu kommen. Auch davon hat keines der Mitglieder etwas erfahren. Sie war damals erst zwölf, in der Pubertät. Die Mutter tauchte auf, und Osnat kam zu mir, wie sie es immer tat, wenn sie Probleme hatte, und sagte: ›Schick sie weg!‹ Sogar ich, die ich sie so gut kannte, staunte über die Härte, mit der sie das sagte, schließlich war sie erst zwölf, noch ein Kind. ›Für mich existiert sie nicht, sie ist tot für immer. Für mich ist sie gestorben. Sag ihr das, schick sie weg, erlaube ihr nicht, daß sie wiederkommt.‹«
Dworka stellte das Glas ab. Ihre Hände zitterten. »Ich habe im Umgang mit Kindern viele schlimme Situationen erlebt, als Lehrerin, als Erzieherin. Es gab viele Probleme. Aber Krisen wie die von Osnat kannte ich nicht. Diese Stärke, diese Willenskraft. Von Anfang an wußte sie, was sie wollte, und rückte keinen Millimeter von ihrem Standpunkt ab. Gott weiß, von wem sie diese innere Kraft hatte, wenn nur ...« Dworka schwieg und drückte ihre Finger gegeneinander.
»Wenn nur was?« wagte Michael zu fragen.
»Wenn sie ihre Kraft nur richtig eingesetzt hätte«, flüsterte Dworka und ließ die Hände wieder locker.
»Aber sie ist doch Lehrerin geworden, so wie Sie auch, und sie hat es bis zur Kibbuzsekretärin gebracht.«
»Ja«, sagte Dworka ohne Begeisterung. »Ich weiß nicht, wie ich das jemandem von außerhalb erklären soll.«
Michael schwieg.
»Ich mußte damals der Mutter erklären«, sagte Dworka, und Michael verstand, daß sie entschlossen war, ihre Geschichte auf die Art zu erzählen, die sie für angemessen hielt, »daß das Mädchen sich weigerte, sie zu sehen, daß sie sie ablehnte und daß es besser wäre, sie in Ruhe zu lassen. Und diese Frau...«, Dworka seufzte und schloß die Augen, als könne sie die Erinnerung an dieses Bild kaum ertragen. »Und diese Frau«, wiederholte sie, während sie die Augen wieder öffnete, »wenn Sie sie nur gesehen hätten.« Plötzlich schaute sie ihn mit einer solchen Intensität an, als sähe sie ihn zum ersten Mal. »Vermutlich sehen Sie viele solche Frauen in Ihrer Umgebung.«
Michael mußte sich Mühe geben, den Ärger zu unterdrücken, der bei dieser überheblichen Formulierung »in Ihrer Umgebung« in ihm aufstieg. Er stützte das Kinn auf die Hand. »Sie hat ausgesehen wie eine billige Frau, mit gefärbten Haaren, in einem engen, geblümten Kleid. Ich erinnere mich an ihre roten Schuhe mit den spitzen Absätzen, Ende der fünfziger Jahre war es unvorstellbar, daß es solche Leute hier gab. Diese Vulgarität! Sie war geschminkt, mitten im Sommer, bei dieser Hitze. Sie hatte ein richtiges Puppengesicht, sie war ja noch so jung. Wir liefen in kurzen Hosen herum, und wenn es hoch kam, hatten wir Sandalen an den Füßen.« Ihr Mund verzog sich. Sie lächelte nicht gerade, sie sah eher so aus wie jemand, der ein Bild aus der Tiefe seiner Erinnerung hervorholt und die Farben aus der Nähe betrachtet. Unter anderen Umständen hätte Michael gelächelt.
»Trotzdem«, fuhr Dworka fort, »war es schwer, kein Mitleid mit ihr zu haben. So eine arme Kreatur, so verloren, und dennoch versuchte sie, ihren Stolz zu bewahren. Ich weiß noch genau, wie sie sich zusammenriß und sagte: ›Wenn sie nicht will, dann eben nicht.‹ Keine Träne trat in ihre Augen. Sie hatte die Härte von jemandem, der aus der Gosse kommt. Und die Ähnlichkeit mit Osnat war verblüffend, die gleiche Sturheit, obwohl die Richtung anders war, sozusagen.«
»Sozusagen?« wiederholte Michael fragend. Seine Stimme klang ihm fremd in den Ohren, gekünstelt.
Dworka schwieg.
»Und Osnat hatte die ganzen Jahre solches Vertrauen zu Ihnen? Haben Sie mit ihr über persönliche Dinge gesprochen?«
»Niemand hat mit Osnat über wirklich persönliche Dinge gesprochen«, stellte Dworka fest. »Bei ihr mußte man zwischen den Zeilen lesen. Nie, wirklich nie, hat sie irgendeinem Menschen ihr volles Vertrauen geschenkt. Ihre innere Welt konnte man nur erahnen, ableiten von dem, wie sie sich verhielt oder was sie tat, aber ein wirklich persönliches Gespräch mit ihr gab
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