Ochajon 03 - Du sollst nicht begehren
ignorierend. In Levis Augen sah er so etwas wie Spott, als wolle der andere sagen: »Beruhige dich, ich kenne meinen Job.« In diesem Moment, dachte Michael, als er die Treppe hinunterlief und die große Eisentür mit einem Knall hinter sich ins Schloß fallen hörte, hatte er wieder eine gewisse Ähnlichkeit mit Onkel Jacques.
Zehntes Kapitel
Michael rief noch einmal aus dem Büro von Elroi, dem Polizeipsychologen, im Hotel Hilton an. Aharon Meros war in seinem Zimmer und wartete. Er protestierte nicht, als Michael sagte, seine Ankunft würde sich noch einmal verzögern. Er meinte nur seufzend: »Gut, ich bin jedenfalls hier.«
Elroi stopfte langsam seine kurze Pfeife. Er dachte lange nach und hütete sich vor einer übereilten Aussage. Wieder und wieder erinnerte er daran, daß es wichtig sei, die Gerüchte nachzuprüfen und sie »auf den Boden der Tatsachen zu stellen«. Michael schätzte diesen Mann, trotz seines reservierten und formalen Verhaltens, und nahm seine Meinung sehr ernst. Ihre Beziehung beschränkte sich auf berufliche Kontakte und war so sachlich, daß keine Wünsche darüber hinaus entstehen konnten, doch zugleich waren sie einander nicht fremd. »Auch Höflichkeit hat ihren Wert«, hatte Michael einmal zu Dani Balilti gesagt, als dieser über Elroi hergezogen war und spöttisch nachgemacht hatte, wie er seine Pfeife reinigte oder mit festen Schritten zur Tür ging, um sie mit der für ihn typischen, höflichen Geste zu öffnen, »ganz zu schweigen von fachlicher Kompetenz.«
»Das ist wahr«, hatte Balilti, plötzlich ernst werdend, geantwortet. »Das kann ihm niemand absprechen.«
Elroi murmelte etwas über den Psychologen, der bei der Spezialeinheit arbeitete, und deutete an, daß Michael ihn, Elroi, auch weiterhin zu Rate ziehen könne. Mit einer für ihn ganz untypischen Neugier fragte er Michael, ob er sich dort, an seinem neuen Arbeitsplatz, wohl fühle. Die vage Antwort, die er erhielt, befriedigte ihn offenbar, denn er hörte weiter zu und fragte am Schluß: »Und was bekommt er?«
Michael zog einen Zettel aus seiner Hemdtasche und las zögernd vor: »Hundert Milligramm Melleril und fünfzehn Milligramm Haldol. Ich habe keine Ahnung, was das bedeutet, ich kenne diese Medikamente nicht. Aber sie hat gesagt, daß er wie ein hospitalisierter Patient behandelt wird. Sie versuchen, Leute in seiner Situation nicht aus dem Kibbuz auszuschließen. Was ich wissen will, ist folgendes:
Ist ein Mensch in seiner Situation überhaupt fähig, gewalttätig zu sein?«
Elroi legte die Pfeife auf die Tischkante und sagte langsam, jedes Wort abwägend, wie um sicherzugehen, daß er auch verstanden würde: »Ja, jedenfalls muß man das in Erwägung ziehen. Sie wissen ja, weitaus die meisten seelisch Kranken sind nicht gewalttätig, vor allem die ManischDepressiven. Diese Kranken sind nur für sich selbst gefährlich. Aber da Sie gesagt haben, die Diagnose laute paranoide Schizophrenie, kann es, falls er seine Tabletten nicht genommen hat ...«
»Er hat sie aber genommen. Jeden Morgen und jeden Abend kommt er zu ihr und nimmt seine Medikamente.«
»Wer hat ihr überhaupt diese Diagnose mitgeteilt?« erkundigte sich Elroi mißtrauisch.
»Das Krankenhaus. Er war zweimal für kürzere Zeit in der Klinik. Sie hat darüber gesprochen, als habe man sie ausführlich informiert.«
»Und außer den Medikamenten hat er keine Behandlung bekommen?«
»Er ist eine Zeitlang zu einem Psychiater bei der regionalen Sozialstation gefahren ...«
»Ja, ich kenne die Station. Und jetzt?«
»In den letzten Jahren hat er sich geweigert, sagt sie. Er hat jede Zusammenarbeit auf Gesprächsebene verweigert. Deswegen hat man sich damit begnügt, ihn im Kibbuz zu beobachten. Warum fragen Sie das? Stimmen Sie der Diagnose nicht zu?«
»Doch, sie stimmt mit der Medikation überein. Die Frage ist nur, ob er die Medikamente nimmt. Daß er zu ihr kommt, um die Tabletten zu nehmen, sagt gar nichts. Er steckt sie in den Mund, aber nur unter die Zunge, er schluckt sie nicht. Diese Leute haben ihre Methoden, ich weiß es, ich habe im Krankenhaus gearbeitet, ich kenne das.«
»Nehmen wir mal an, er hat die Tabletten nicht genommen, was ist dann?« fragte Michael ungeduldig.
»Wenn er sie nicht genommen hat, kann er in einen schlimmen Zustand geraten, in eine paranoide Psychose. Er kann glauben, daß er verfolgt wird oder so. Die Medikamente bleiben nur achtundvierzig Stunden im Körper. Nimmt er sie ein paar Tage
Weitere Kostenlose Bücher