Ochajon 04 - Das Lied der Koenige
adoptieren.«
»Ich verstehe nicht, mit welchem Recht Sie das zu diesem Zeitpunkt entscheiden können, ohne sich näher mit mir darüber unterhalten zu haben«, sagte er und versuchte, Angst, Kränkung und Wut, die ihn übermannten, zu ersticken.
»Sie widmen sich jedem Ihrer Fälle bis zur völligen Erschöpfung. Tagelang sind Sie nicht zu Hause, aber ich habe auch begriffen, daß Ihre Persönlichkeit der eines echten Kriminalbeamten entspricht. Sie lieben die Einsamkeit, sind verschlossen, streben nach Vollkommenheit. Ich habe Protokolle, die Sie verfaßt haben, gelesen.«
»Ich kann es nicht fassen!« flüsterte er. »Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden. Ich habe Sie für eine vernünftige Frau gehalten. Ich weiß nicht, wie Sie auf so etwas kommen.«
»Was denn, lesen Sie etwa keine Krimis?«
Er sah sie an, um festzustellen, ob sie ernsthaft auf eine Antwort wartete.
»Ich mag keine Krimis«, sagte er schließlich. »Ich habe keine Ahnung, was das jetzt soll...«
»Sie mögen keine Krimis?! Wie kommt es, daß Sie ... Schade, ich bin süchtig danach«, gestand sie. »Auch Gabi war süchtig. Es war eines unserer gemeinsamen Interessen. Auch er war verrückt nach Krimis. Wir haben Bücher ausgetauscht ...« Sie wurde still und seufzte. »Erst vor ein paar Tagen habe ich ihm einen Krimi von einem holländischen Autor geliehen, den er sehr mochte. Alles passiert dort im China des sechsten Jahrhunderts. Sie haben keine Ahnung, wieviel man diesen Büchern über das Leben im alten China entnehmen kann. Überhaupt, man lernt aus Krimis eine Menge ...«
»Ich habe davon gehört«, sagte er müde. »Dostojewski hatte es nicht nötig, auf diese Art und Weise zu beleh ren.«
»Wie auch immer«, sagte Ruth Maschiach beharrlich, »in den Büchern dieses Holländers, der im Diplomatischen Dienst im Fernen Osten gearbeitet hat und vielleicht kein großer Schriftsteller war, ist der Held ein Richter namens Di. Er ist faszinierend, und auch er lebt allein. Warum lesen Sie keine Krimis?«
Er hob die Achseln. Das Gespräch wurde langsam surreal, irreal, aber er war geneigt, ihr ehrlich zu antworten, als ob in der Bemühung an sich, auf all ihre Fragen einzugehen, eine Chance lag, das Kommende abzuwenden, Gnade in ihren Augen zu finden, den Eindruck von Aufrichtigkeit zu hinterlassen. »Krimis sind in meinen Augen unrealistisch. Ich habe keine Geduld dafür. Alles liegt von vornherein fest. Alles ist konstruiert. Vielleicht außer Schuld und Sühne oder Der Schnee war schmutzig mit Kommissar Maigret. Das sind Bücher, die ich lesen kann.«
» Schuld und Sühne ist doch kein Krimi!« warf sie ein.
»Meine Lehrerin hat das Buch als Meisterstück eines Krimis bezeichnet«, sagte er mit einem zaghaften Lächeln, verlegen, weil ihm sein Versuch, mit Naivität ein wenig zu bezaubern, durchschaubar schien.
»Es kann kein Krimi sein, weil es sich auf das Bewußtsein des Mörders konzentriert. Schließlich ist die Frage, die den Leser bei Schuld und Sühne interessiert, nicht, wer die alte Wucherin ermordet hat, und nicht einmal, wie der Täter gefaßt wird, obwohl es ein Spannungsmoment ist. Was in dem Buch im Vordergrund steht, ist, wie Raskolnikow den Rest seines Lebens verbringen wird, nachdem er gemordet hat. Wie er mit seiner Tat zurechtkommt.«
»Also, Sie haben selbst begriffen, was in Krimis uninteressant ist. Auch in Der Schnee war schmutzig ist es wie bei Dostojewski. In Krimis erfährt man nichts darüber, wie ein Mörder mit seiner Schuld umgeht.« Er fragte sich, wieviel Nutzen er aus dieser Diskussion herausschlagen konnte.
Konnte er sie beeindrucken, wenn er ernsthaft auf sie einging? Gegen das Bedürfnis, sie zu beeindrucken, lehnte er sich auf. Wie konnte er wissen, was sie beeindrucken würde. Bei ihr lagen die Dinge nicht so einfach, wie beispielsweise bei Schwester Nechama. Gerade deshalb ließ er sich zu oberflächlichen, beinahe provokativen Äußerungen hinreißen: »Oft gibt es in Krimis Verdächtige, die nur der Handlung dienen und keine echten Charaktere sind. Und immer gibt es einen Mörder. Und immer endet es mit der Aufklärung des Falles. Nach der Aufklärung erfährt man nie, was aus den Helden und den Mördern wird. Bis auf die Bücher, in denen der Mörder am Ende umkommt, was sehr bequem ist. Die ganze Frage der Beweislast und des juristischen Prozesses wird in diesem Genre ausgeklammert, und wenn doch, denken Sie an Perry Mason, ist es fiktiv. Alles löst sich mir nichts, dir nichts.
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