Ochajon 04 - Das Lied der Koenige
Überhaupt – alles klärt sich auf.«
»Was ist daran auszusetzen?« wunderte sie sich. »Können Sie diese Spielregeln nicht akzeptieren? Gabi pflegte zu sagen, daß es eine Menge Parallelen zwischen einem Krimi und einer Oper gibt, die gleiche Logik.«
»Alles dient der Spannung«, beharrte Michael. »Es gibt in diesen Büchern keine Atempause, kein ästhetisches Verharren. Keine Abweichungen vom Hauptstrang der Handlung. Alles ist funktional. Ein Gespräch, wie wir es jetzt führen, hätte in einem Krimi keinen Platz, weil es nichts und niemandem dient. Ich habe dafür keine Geduld. Meine Arbeit stellt mich vor genügend Rätsel. Und der Schluß, was auch immer in der Mitte geschieht, der Schluß ist immer frustrierend. Entweder man weiß zu früh, wer der Mör der ist, oder man fühlt sich zum Narren gehalten, weil der Schluß einem an den Haaren herbeigezogen zu sein scheint.«
»Aber die Spannung ist doch nicht das einzige, was einen an Krimis reizt!«
»Nein? Was denn dann?«
»Verschiedene andere Dinge. Spannung zu erzeugen ist nur ein Teil des Vertrages, der Vereinbarung zwischen dem Krimiautor und seinem Lesern. In Wahrheit ...« Ruth Maschiach wurde still, als er ansetzte, etwas über stillschweigende Übereinkommen zu sagen. Doch er überlegte es sich anders.
In den Sekunden, in denen sie schwiegen, fragte er sich, ob sie tatsächlich imstande war, ihm das Baby wegzunehmen. Wie konnte es sein, protestierte eine Stimme in ihm, daß sie nicht sah, was er, und nur er, dem Kind geben konnte. Eine andere Stimme machte sich über diese Polemik lustig. Sie wollen jemand Herkömmliches, rief er sich in Erinnerung, eine normale, warmherzige Familie. Was wäre, wenn sie ihm das Baby wegnehmen würden, erschrak er angesichts des sich neigenden Kopfs Ruth Maschiachs, die ihm prüfend ins Gesicht sah. Was würde er mit der Ausrüstung machen, die er bestellt hatte, der Wickelkommode, den Spielsachen, dem Gitterbett. Er wunderte sich selbst und schämte sich über seine Sorge, die so lächerlich war. Sie werden sie mir nicht nehmen, überzeugte er sich selbst für den Augenblick. Sie werden sie nicht so schnell wegnehmen können, er würde kämpfen.
»In erster Linie liest man Krimis um des Gefühls der Unschuld willen«, sagte Ruth Maschiach.
»Des Gefühls der Unschuld? Des Gefühls der Unschuld!«
»Ja, das ist meine Überzeugung. Jeder läuft mit Schuldgefühlen herum«, ignorierte sie den Spott.
»Schuldgefühlen, inwiefern?«
»Ich weiß wirklich nicht, ob Sie es akzeptieren werden«, seufzte sie. »Aber Schuld hat – kurz gesagt – immer etwas mit dem Wunsch zu tun, den eigenen Vater zu töten. Zumindest, wenn es um Männer geht.«
»Ödipus, o Ödipus!« rief Michael und wurde für ge raume Zeit still. »Gut, kein Wunder, daß ich dieses Gefühl der Unschuld nicht benötige, mein Vater ist gestorben, als ich noch ein Kind war.« Weil er ihrem Blick Enttäuschung entnahm und sah, wie ihr Körper sich für eine Erklärung rüstete, von der er vorab wußte, daß sie lauten würde, daß es keinen Zusammenhang zwischen dem geschichtlichen Todesdatum seines Vaters und des in ihm nistenden Schuldgefühls gab, und weil er selbst die Banalität in seinen Worten wahrnahm, die ihn plötzlich beschämte, und auch weil ihn das billige Psychologisieren langsam wütend machte, fügte er hinzu: »Wollen Sie damit sagen, daß der Krimileser sich von Schuldgefühlen freimacht, weil er nicht der Mörder ist?«
»Er identifiziert sich ganz und gar mit dem Ermittler und mit dessen Rechtsempfinden. Solange er in einen Krimi vertieft ist, kann er sicher sein, daß er zu den Guten gehört. Er ist einsam, wie der Ermittler zu ewiger Einsamkeit verdammt ist, zumindest bis die Wahrheit ans Tageslicht kommt.«
»Ich verstehe nicht. Wovon sprechen Sie!« stieß er aus. Zu seinem eigenen Erstaunen machten ihm ihre Worte mehr angst als die herkömmlichen Routinefragen – über die Zeit, die er sich für das Kind freimachen konnte, über seine Bewältigungsstrategien in familiären Konflikten, über Nita.
»Darüber, daß ich Sie studiert habe und daß Sie diese Detektivmentalität haben. Ein Detektiv kann keine Ehe eingehen, und wenn doch, gerät er in Konflikte. Und es steht fest, daß er keine Kinder großziehen kann. So ist es seit Sherlock Holmes, vielleicht schon seit Edgar Allan Poe.«
»In meiner Jugend habe ich Krimis gelesen«, sagte er brüsk. »Ich kann mich nicht erinnern, daß die familiäre Situation ein
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