Ochajon 04 - Das Lied der Koenige
bekannten Argumente über das eigene Gefühl im Bauch, das angeblich bestimmte, und von denen er sich zu überzeugen versuchte, schienen in einem Moment richtig und im nächsten Moment falsch. Wie sollte er wissen, wer von beiden der bessere war. Natürlich konnte er es nicht, natürlich war er nicht wie Nita in der Lage, Unterschiede zwischen zwei Geigern herauszuhören. »Manchmal ist es gar nicht eine Frage von besser oder schlechter«, hatte Nita gesagt, als sie mehrmals die Cellosuite von Bach, gespielt von Casals, hörte. »Es geht vielmehr darum: Wie macht er es, und was kann ich anders machen? Was kann ich von ihm lernen, und was kann ich persönlich einbringen?« Es war der Moment, in dem er sich laut über die Möglichkeit gewundert hatte, etwas zu spielen, das Casais schon mit solcher Perfektion gespielt hatte. Und ausdrücklich fragte er, ob eine solche Vollkommenheit keine kastrierende Wirkung hatte.
»Gut«, sagte Nita, »dann braucht man nicht mehr weiterzuleben. Denn dann kann man keinen Chopin nach Ru binstein spielen und nicht Mozart nach Clara Haskil. Es hat keinen Sinn, Schubert nach Schnabel zu spielen und gar nichts mehr nach Heifetz. Ich weiß nicht«, hatte sie zwei felnd das Gesicht verzogen, »mir tut es gut, sie zu hören. Ich habe nie Neid empfunden. Ich dachte immer, sie haben eine Vollkommenheit, mit der man in Einklang leben kann. Die man sogar braucht. Ich dachte immer«, hatte sie verlegen gesagt, »daß es ist, wie in einer Welt zu leben, in der es Gott oder so etwas gibt.« Sie hatte gelacht, um ihren Worten das Pathos zu nehmen. »Für mich verkörpern sie die Idee der Vollkommenheit, das heißt, sie sind Lehrer. Man muß sie studieren. Dann überprüft man, ob man dem etwas hinzu fügen kann. Manchmal kann man. Und außerdem«, hatte sie eifrig bemerkt, »wenn man jemand Neues hört, der gut spielt, ich sage nicht, daß man nicht einen Moment lang er schrickt, aber man empfindet auch eine große Freude, als ob einem ein Bruder geboren wurde, ein Freund auf der Welt. Alle Worte über Haß zwischen großen Künstlern sind Unsinn. Kein ernstzunehmender echter Künstler wird einem wirklichen neuen Künstler im Weg stehen. Im Gegenteil«, sagte sie wie innerlich erleuchtet, »alle großen Künstler haben Anfängern geholfen, wenn sie an sie glaubten. Wie Schumann und Brahms, Brahms und Dvořák. Auch mit Musikern ist es so. Sogar mit Myra Hess und Thelma Yel lin und Casais und verschiedenen großen Sängern, die junge Talente unterrichten. Hast du gewußt, daß der Ehemann von Elisabeth Schwarzkopf der Produzent aller großen Aufnahmen der Callas war? Sie waren enge Freundinnen, und beide waren sie Sängerinnen. Hast du das gewußt?«
Am Anfang zog Juwal die Augenbrauen zusammen. Dann machte sich in ihm eine Art Freude breit, wie die, die Dora Sackheim ausgestrahlt hatte, als sie ihm die Tür geöff net hatte. Sie selbst saß auf einem grünen gepolsterten Stuhl. Michael konnte ihr Gesicht nicht sehen, sondern nur den Arm, der sich ab und zu dem Gesicht näherte, damit sie an der Zigarre ziehen konnte, die sie in der Hand hielt. Bis auf diese Bewegung rührte sie sich nicht. Wolken graublauen Dunstes schwebten um den grünen Stuhl und hüllten ihn in eine Art geheimnisvollen Nebel. Er spürte, wie seine Kiefer sich bei dem Gedanken an das Urteil zusammenpreßten, das hier in seiner Anwesenheit gefällt wurde. Zehn Minuten spielte der Junge ohne Unterbrechung. Als sie den Arm hob, hörte er auf. Im Raum herrschte völlige Stille. Dora Sackheim stand auf, ging in das Zimmer nahe an der Tür, nahm die Glasschale mit der Schokolade, reichte sie dem Jungen und ermunterte ihn: »Nimm, nicht nur eine.« Dann stellte sie die Schale vor die Eltern, deren Gesichter Michael nicht sehen konnte. Jetzt erklang ihre Stimme, langsam und unentschlossen: »Gar nicht so schlecht für das erste Mal«, gestand sie nachdenklich. »Talent ist da. Keine Frage, daß Talent vorhanden ist – aber Technik ist furchtbar.« Es herrschte Stille nach ihren Worten. Sie zündete eine frische Zigarre an und setzte sich wieder. »Auch wenn ich Zeit hätte, und ich sage nicht, daß ich Zeit habe, aber auch wenn ich hätte, dreimal die Woche, drei, vier Stunden jedesmal, wie soll das gehen? Er ist elf? Von Beer Sheva nach Holon? Das ist kein Leben, überhaupt kein Leben für elf Jahre altes Kind. Viel leicht noch zwei Jahre«, zögerte sie, ihre Stimme war freund lich, als sie hinzufügte, »ich bin schon zu alt. Wer
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