Ochajon 04 - Das Lied der Koenige
den Raum teilte. Sie stand halb offen. Und er sah auf das Bett, das den zweiten Raum fast ganz einnahm.
»Wir können Tür schließen«, sagte sie unkompliziert. »Kein Problem. Er wird nichts hören«, fügte sie hinzu, und beinahe fröhlich sagte sie: »Zuerst ist Zeit für Saft oder Kaf fee.«
Juwal setzte sich neben Michael, las in der Zeitschrift und spielte mit den Fransen der bestickten Tischdecke. Dora Sackheim ging in die Küche, und von seinem Platz aus verfolgte Michael ihre energischen Bewegungen auf der engen quadratischen Fläche, wo sie geräuschvoll einschenkte und rührte. Juwal hob seine Augen, die aussahen, als ob er sich ein Lachen verkniff. Sie funkelten, als er lächelte. »Ich habe mich gefragt, ob ich heute Schokolade bekomme«, neckte er sie, als sie mit einem kleinen hölzernen Tablett zurückkam, auf dem Gläser in silbrigen Manschetten standen. »Und es gibt sogar Kekse. Ich wußte nicht, ob du mir welche genehmigst, weil ich so schlecht gespielt habe.«
Sie legte den Kopf auf die Seite und sah ihn mit einem kri tischen Blick an, der viel Zuneigung enthielt. »Gut, daß du jetzt glücklich bist«, tadelte sie ihn, »heute und vorgestern war ich bekümmert, weil du zu melancholisch warst.« Er setzte zu einer Antwort an, als es an der Tür klingelte.
»O Gott«, sagte sie erschrocken. »Wieviel Uhr haben Sie?« fragte sie Michael und sah auf ihre Armbanduhr. »Ich habe mich völlig vergessen, völlig vergessen«, jammerte sie auf ihrem Weg zur Tür.
Zwischen einem Mann und einer Frau stand ein etwa zehn Jahre alter Junge, der einen kleinen Geigenkoffer in Händen hielt. Dora entschuldigte sich wiederholt, und Michael versicherte ihr mehrmals, daß es ihm nichts ausmachen würde, noch zwanzig Minuten zu warten. »Sie kommen eigens aus Beer Sheva, einen sehr weiten Weg, einen sehr weiten Weg aus Beer Sheva«, sagte sie. Von seinem Platz in dem kleinen Zimmer, nah am Durchgang, hörte er, wie sie den Eltern, die auf einem schmalen, grünlichen Sofa saßen, erklärte, daß in ihrem Terminkalender nicht einmal Platz für einen Stecknadelkopf sei. »Aber Sie haben ihn doch gehört«, sagte die Mutter verzweifelt.«
»Es war sehr schön, wirklich. Er hat Talent. Aber ich habe keine Zeit. Wir hören ihn dennoch an«, bestimmte Dora Sackheim. Juwal lächelte allwissend, als kenne er sich in Dialogen dieser Art aus, und rieb einen dunklen Fleck an seinem Hals. Michael erschauderte, als er sich an die melodische Stimme des Gerichtsmediziners erinnerte, der Gabriel van Geldens Gesicht berührte und sagte: »Der hier hängt nicht mit den übrigen Blutergüssen zusammen«, während er auf den durchtrennten Hals preßte.
»Er kann Bruch spielen«, willigte Dora Sackheim ein. »Von Mozart nur fünftes, anderes Konzert ist jetzt in sei nem Alter zu schwer. Es ist Frage von Alter. Frage von men taler Entwicklung. Nicht alles kann man spielen. Mendelssohn vielleicht auch«, fügte sie hinzu.
»Mendelssohn hat er in dem Konzert gespielt, in dem Sie ihn gehört haben«, sagte die Mutter. »Vielleicht ist besser, wenn er jetzt Kreisler spielt.«
»Ich kann mich sehr gut erinnern«, versprach Dora Sackheim. »Aber man darf den Kindern nichts geben, was ihnen zu schwer ist, was sie noch nicht verstehen können. Für Kreisler ist es zu früh«, sagte sie. »Das ist meine Philosophie. Genug gesprochen. Jetzt soll er spielen.«
Das Kind stand vor dem Notenständer und hielt die Geige. Von seinem Platz aus konnte Michael das Gesicht des Jungen sehen. Er legte die Geige auf seine Schulter und lehnte sein Kinn darauf, hob den Bogen, legte ihn auf die Saiten und schloß die Augen. Der Raum erzitterte, als ob der Arm, der den Bogen hielt, die Welt durchschnitt, auf ihr spielte und sie zu Scherben zerspringen ließ. Michael hielt den Atem an. Wenn man das Gesicht abwandte, konnte man sich nicht vorstellen, daß ein Kind spielte. Aus den Augenwinkeln bemerkte er Juwal, der die Zeitschrift leise aus den Händen legte, sein Gesicht bedeckte und die Augen schloß. Michael schaute hin und wieder in seine Richtung, fragte sich, wie ein Geiger fühlte, wenn es ihm schien – zumindest war es Michaels Eindruck –, daß er einem neuen Talent lauschte, einem vielleicht größeren als dem seinen. Wieder fragte er sich, wie man wissen konnte, ob jemand wirklich gut spielte. Wie erkannte man, ob jemand ein echter Künstler war oder ob eine Fehleinschätzung vorlag, die abhängig war von der öffentlichen Meinung. Diese
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