Ochajon 04 - Das Lied der Koenige
baumelte. »Nicht genug!« beklagte sie sich. »Schlechte Hand. Zweiter Finger hat nicht genügend gearbeitet. Er hat heute wohl nicht ausreichend Tonleiter geübt.« Der junge Mann flüsterte etwas. »Hat nichts zu tun mit Uhrzeit«, sagte sie zornig. »Eine Stunde ist heute nichts. Hand ist steif, und Finger sind nicht kräftig. Kontrolle fehlt. Keine Kontrolle. Ist wie Stück Holz! Was ist mit Klang! « Sie drückte den Zigarrenstummel in einem großen gläsernen Aschenbecher aus und klatschte in die Hände. »Was für ein Klang! Schrecklich! Ist nicht gut«, rief sie angewidert, sah den jungen Mann an, der dort stand, als sei er daran gewöhnt, sah wieder auf Michael, der sich beeilte, ihrem Blick auszuweichen, und mit einem dramatischen Flüstern sagte sie: »Letzte Woche war Schmulik bei Trauerfeier für Paul. Er hat die Sarabande gespielt, viel, viel besser hat er sie gespielt.« Der junge Mann sah sie schweigend an. »Gut«, sagte sie versöhnlich. »Auch er ist kein Jascha Heifetz, aber er hat viel besser gespielt als du heute. Dein Finger versteht heute nichts«, klagte sie. »Hat keinen Rhythmus und kei nen Klang.« Der junge Mann senkte den Kopf, als warte er darauf, daß die Sache an ihm vorüberging. Dann wurde sie still, murrte noch einmal, legte eine Hand auf seinen Arm und sagte ruhig: »Deine Laune gefällt mir nicht. Du bist traurig. Ist in Schule was nicht in Ordnung? Bekommst du nicht genug frische Luft? Du bist schon lange in dieser Laune.« Er schwieg und zuckte die Schultern. Sie zog eine Blechbüchse heran, fischte eine dünne Zigarre heraus und zündete sie mit einem großen silberenen Feuerzeug an, neig te den Kopf zur Seite und sah erneut den jungen Mann an. Er sagte nichts. Mit einer sanften Bewegung legte er die Geige aus der Hand. Er drehte sich um und betrachtete Michael. Offene Neugier brannte in den blauen, beinahe durchsichtigen Augen, die von buschigen, dunklen, über der Nasenwurzel zusammengewachsenen Augenbrauen betont wurden und in einem weißen, flaumigen Gesicht deutlich hervorstachen. »Schluß für heute. Du mußt noch weiten Weg zurücklegen. Sehr weit«, sagte sie besorgt. »Mehr als eine Stunde. Mit Bus sicher zwei Stunden.« Der Junge packte die Geige in den Koffer. »Fährt man nach Zikhron Yaakov eine oder zwei Stunden?« fragte sie Michael, als der junge Mann auf dem Weg zur Tür war. Für einen Moment rang Michael mit sich, ob er auf eine ganze Stunde verzichten sollte, in der er endlich allein zu sein hoffte. Als er das einnehmende Lächeln des jungen Mannes sah, konnte er nicht umhin zu bemerken, wenn es um eine Fahrt nach Beth Daniel gehe, so sei auch er auf dem Weg dorthin, und wenn der junge Mann warten würde, bis das Gespräch mit Frau Sackheim beendet sei, könne er sich ihm anschließen.
»Juwal, wunderbar Juwal!« rief sie aufgeregt und betonte seinen Namen falsch. »Das ist sehr gut«, erklärte sie Michael, als wäre Juwal nicht anwesend. »Er arbeitet so schwer, gönnt sich gar keine Ruhe. Und heute sind Auto busse große Gefahr«, dachte sie laut. »Man kann nie wis sen, was passiert. Schwere Zeiten«, sie schüttelte den Kopf. »Wir haben heute schon um sieben begonnen«, sie atmete den Rauch tief ein, hustete, und als gebe sie ein Geheimnis preis, fügte sie hinzu: »Gewöhnlich muß ich sagen, sie arbeiten nicht genug. Aber er? Zu viel!« Sie schüttelte wieder den Kopf. »Zu viel Arbeit, zu wenig Leben. Man muß auch leben. Kinder in seinem Alter müssen leben. Wann wird er noch einmal sechzehn sein?«
Als ob er nichts hörte, beugte Juwal seinen Kopf zu dem unteren Bord eines großen, braunen Regals, das die Wand bedeckte, und zog ein Heft heraus. »Das ist die Musical America mit der Reportage über dich«, sagte er aufgeregt und blätterte bis zur Mitte, wo sie abgebildet war. »Schmulik hat mir davon erzählt«, sagte Juwal und vertiefte sich. »Kann ich den Artikel lesen, Dora?«
Sie winkte ab. »Unsinn, nichts als Unsinn«, murmelte sie. »Bücher sind vom Regal gefallen«, fügte sie hinzu. Juwal bückte sich und sammelte drei Taschenbücher auf.
»Das ist sehr schön. Er ist heute aus Haifa gekommen«, erklärte sie. »Das ist schon drittes Mal für diese Woche. Unterrichtsstunde kostet viel Zeit. Um fünf Uhr ist er heute morgen von zu Hause weggegangen. Um sieben haben wir mit Unterricht begonnen.« Juwal errötete. »Nur muß ich mit Ihnen unter vier Augen sprechen«, sagte Michael bekümmert und sah auf die große Schiebetür, die
Weitere Kostenlose Bücher