Ochajon 04 - Das Lied der Koenige
und den starken Wunsch, auch von ihr ein wenig Achtung zu erfahren. Er schämte sich im gleichen Augenblick für diesen Wunsch. Er riß sich zusammen und schwieg.
»Worüber haben wir gesprochen? Dieser alte Kopf«, sie klopfte auf ihre Stirn. »Ach, Dr. Faustus , ja, dort gibt es einen Komponisten, der sich dem Teufel verkauft. Gabriel hat sich nicht verkauft, aber er hat sich gefühlt, als ob er Seele verkauft hätte. Er war kein Komponist, aber er wollte Reinheit, Reinheit, war verrückt nach Reinheit. Ich fragte schon, als er ein Kind war: ›Was ist so schmutzig an Mendelssohn? ‹ Denn nicht einmal den Mendelssohn mochte er.« Sie lächelte traurig und schlug sich leicht auf die Schenkel.
Zuerst zögerte er ein wenig, aber als er ihre Augen sah, dachte er, daß man offen mit ihr sprechen konnte. »Haben Sie gewußt, daß er homosexuell war?«
Sie zwinkerte nicht einmal. »Ich habe es mir gedacht. Zwischen zwölf und achtzehn ist es zu früh für Gewißheit. Der Mensch weiß es in diesem Alter selbst nicht immer. Aber ich dachte immer – entweder ist er bisexuell oder ho mosexuell. Dann hat er geheiratet – und ich dachte, ich habe mich geirrt. Als Jahre vergingen und er kam, sah ich, daß es so gewesen ist. Ich habe es auch von jemandem gehört.«
»Aber Sie haben nicht darüber gesprochen?«
»Niemals«, wie ein Mädchen schüttelte sie den Kopf und biß sich auf die Lippe.
»Und er ist immer allein hergekommen?«
»Immer allein.«
»Und vor ein paar Wochen war er bei Ihnen.«
»Ist es schon ein paar Wochen her?« wunderte sie sich. »Ich kann mich nicht genau erinnern. Es war sehr heiß. Juni oder Juli oder August. Ich glaube, Anfang August. Hundertprozentig August. Ja, es ist schon mehr als einen Monat her, seit er gekommen ist.«
»Ist bei diesem Besuch etwas Besonderes vorgefallen?«
Sie schien angestrengt nachzudenken. »Nein, der Vater lebte noch. Er war sehr fröhlich, sehr aufgeregt. Er hätte Überraschung für mich, aber er hat nicht gesagt, was für Überraschung. In ein paar Monaten wollte er es mir sagen.«
»Und es gab keinen Hinweis? Hat er nichts Außergewöhnliches gesagt?«
»Außergewöhnliches?« wiederholte sie, als habe sie nicht richtig verstanden. »Extraordinaire?« Sie wurde still, dann murmelte sie: »Es gab große, wie sagt man, Spannung.«
»Und das war alles?«
»Nun«, sie schien die Geduld zu verlieren, »er war nur eine Stunde hier. Er brachte mir Geschenke aus Europa. Er kam immer mit kleinen Geschenken, Schokolade, Käse aus Holland, denn er war in Holland, ein schönes Tuch. Mir genügen noch Schallplatten«, sagte sie mit einem kindlichen Lächeln. Ich sagte ihm, ich werde die Welt verlassen, ohne diese Dinge, aber er brachte mir ein Gerät und CDs. Von Heifetz. Er mochte Heifetz nicht immer. Nur manchmal. Es war nur für mich. Manchmal brachte er Aufnahmen, die er selbst gemacht hat. Grosse Bachmesse, die er vor drei, vier Jahren in Jerusalem aufgenommen hat. Ich mochte nicht, wie er gespielt hat. Aber war interessant.«
»Hatten Sie das Gefühl, daß er kam, um sich zu beraten? Daß er sich in einer Krise befand?«
Sie zögerte. »Er kam immer, auch um sich zu beraten. Vor einem wichtigen Konzert, wenn er an etwas Neues gearbeitet hat. Wenn er Problem hatte mit Interpretation. Er ist immer gekommen. Wir saßen Stunden zusammen. Haben geredet, haben gedacht. Er war sehr klug, Gabriel, ein wirklicher Musiker. Wir sprachen viel von Interpretation. Zum Beispiel, wie man Barockmusik spielen soll. Wir hatten nicht immer selbe Meinung.«
»Sie kannten ihn, seit er ein Kind war«, drängte er sie. »Hatte sein letzter Besuch eine besondere Bewandtnis?«
»Gut«, sagte sie mit deutlichem Unbehagen, und große Trauer stand in ihren Augen. »Natürlich wußte keiner, daß es letzter Besuch war. Wir wußten auch nicht wie ... wuß ten nicht, daß er vor mir geht. Und dann so etwas.«
Michael schwieg.
Sie dachte angestrengt nach. »Ich weiß schon nicht mehr, ob es wirklich so war oder ob es nur Wunsch ist zu helfen«, entschuldigte sie sich. »Aber vielleicht ... ich erinnere mich, daß wir über Vivaldi gesprochen haben. Aber die letzten Jahre sprach er immer von Vivaldi. Diesmal mehr. Und etwas sehr, sehr ... vielleicht Freude?«
»Was war mit Vivaldi?«
»Er hat gefragt«, sie lächelte erneut, »ob ich glaube, daß Vivaldi ein Requiem geschrieben hat.«
Jetzt lachte sie laut, kurz und freudlos auf. »Guter Witz«, seufzte sie schließlich.
»Was ist
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