Ochajon 04 - Das Lied der Koenige
bei Polizei, nicht wahr?« Eine Wolke verdeckte plötzlich ihre Stirn und ihre Augen. »Furchtbar. Furchtbar. Soviel Arbeit und soviel Talent. Und dann – auf einmal.«
»Sie haben ihn sehr gemocht?«
»Gemocht?« winkte sie ab. »Gemocht. Ich habe ihn sehr geliebt. Meine Schüler«, sie sah zum Fenster, »sind für mich wie Kinder. So viele Stunden, so viele Jahre. Ach«, sagte sie mit großer Trauer. »Was soll man sagen.«
Er bat sie, Gabriel zu beschreiben.
Sie riß mehrmals den Mund auf und schließlich sagte sie: »Man kann einen Menschen nicht beschreiben. Wenn man einen kennt – ist es ganz unmöglich. Er hat bei mir begonnen, als er sieben Jahre alt war. Schon damals war er ein großer Pedant. Perfektionist, mit viel Talent. So ernst. Auch naiv. Mit Idealen. Er war ein besonderer Mensch. Still, aber besonders.«
»Hat er sich schon in seiner Jugend für die alte Musik interessiert?«
»Gabi?«
Michael nickte.
»Ja«, zögerte sie. »Nicht so sehr wie in den letzten Jahren, aber man kann sagen, ja. Auch als Kind hat er Barockmusik mehr geliebt.«
»Und Theo?« Für einen Moment dachte er, sie würde wiederholen, Theo sei etwas anderes gewesen. Aber sie sagte nichts, sie kniff nur die Lippen zusammen, und plötzlich erschienen Falten auf ihrem Kinn, die er vorher nicht bemerkt hatte. Sie dachte nach und sagte: »Nehmen Sie Thomas Mann. Es paßt, daß ich über Theo und Gabi gemeinsam nachdenke, gerade, weil sie so unterschiedlich waren.«
Michael schwieg. Es schien ihm, daß das Aufnahmegerät in seiner Brusttasche surrte, so daß sie es hören konnte. Aber sie war in sich versunken: »Gabriel war mehr ... er interessierte sich für innere Seite von Dingen. Gerade er, nicht Theo, war eine Art Adrian Leverkühn.«
»Wer?« flüsterte Michael.
» Dr. Faustus – haben Sie es nicht gelesen?«
»Ich habe es versucht, zweimal, es ist lange her«, gestand er.
»Ein schwieriges Buch, wenn man sich nicht auskennt mit Musik«, sagte sie nachsichtig. »Kennen Sie sich aus in Musik?«
»Ich verstehe nichts davon«, sagte Michael. »Ich liebe sie nur.«
»Liebe ist das wichtigste«, versicherte sie, »nicht für einen Künstler, nicht für einen Musiker«, beeilte sie sich zu präzisieren. »Dort reicht Liebe nicht. Manchmal stört sie sogar. Als Künstler muß man ... eher kalt sein. Ein Künstler muß fast ein Monstrum sein«, lächelte sie. »Er muß alles von sich wegschieben, alles zur Hölle schicken, auch die Liebe, wenn er spielt. Man muß mit Gefühl spielen, ohne Gefühl zu fühlen. Verstehen Sie? Man braucht, wie soll ich sagen, Distanz, richtigen Abstand«, sagte sie schließlich mit dem Ausdruck der Erleichterung, daß sie die passenden Worte gefunden hatte. »Aber für das Leben ...« Sie breitete die Arme aus, neigte den Kopf und begutachtete sein Ge sicht mit ihrem wachen Blick. »Haben Sie an der Universität studiert?«
Er nickte. »Geschichte und Jura. Aber ich habe mein Studium noch nicht abgeschlossen.«
»Was für eine Geschichte? Kunstgeschichte?«
»Nein, vor allem mittelalterliche Geschichte«, sagte er mit wachsendem Unbehagen, als er sie höflich nicken sah.
»Hängt das mit Polizei zusammen? « Auch in dieser Frage lag große Höflichkeit und ein Funke Verwunderung.
»Das war, bevor ... bevor ich wußte, daß ich bei der Polizei arbeiten würde«, versuchte er kurz zu erklären. Er konnte schwer abschätzen, wieviel Interesse, wenn überhaupt, sie seiner Person entgegenbrachte, von dem Moment an, als ihr klar wurde, daß er weder Musiker war noch über musikalische Kenntnisse verfügte. Hätte er ihr seine Lebensgeschichte erzählt, die Zufälle, die dazu geführt hatten, daß er sich bei der Polizei wiederfand und die Beschäftigung mit der Geschichte aufgab, hätte sie verstanden, daß er nicht irgendein gewöhnlicher Polizist war, daß auch er sich nach geistigen Dingen sehnte. Das Gefühl der Kränkung übermannte ihn, der Kränkung über seine simple, kindische Sehnsucht, daß sie ihm den richtigen Wert beimaß. Wie konnte man ihre Blockade durchbrechen, die Blockade ei nes Menschen, der nicht in der Lage war, den Sinn eines Le bens einzusehen, das nicht voll von Musik war, und sich folglich für ihn nicht interessierte. Hätte sie von seiner Beziehung zu Nita gewußt, wie sehr ihr Spiel ihn berührte, hätte sie ihn vielleicht mehr geschätzt. Vielleicht hätte sie ihn sogar gemocht. Etwas von ihm hätte sich in ihr eingeprägt. Er empfand große Achtung für sie
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