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Ochajon 04 - Das Lied der Koenige

Ochajon 04 - Das Lied der Koenige

Titel: Ochajon 04 - Das Lied der Koenige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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kleinen Klingel, wenn sie zu verstummen schienen, doch er ließ ihn in der Luft verweilen, weil die Klänge erneut einsetzten.
    Schließlich wagte er es, die Klingel zu drücken. Die Musik hörte nicht auf, aber energische Schritte näherten sich der Tür, die mit einem Schwung geöffnet wurde. Im Eingang stand die kleine Frau. Ihre Haare waren von einem matten Kastanienbraun, als ob man einen Farbeimer darüber ausgeleert hätte. Ihre Augen – blau und klar in einem Gesicht, das beinahe faltenlos war – glänzten voller Erwartung und Vitalität, als ob jedes Öffnen der Tür ein potentielles, gro ßes Abenteuer barg. Seine erste Reaktion auf das unerwar tet junge Aussehen – wenn er nicht gewußt hätte, wie alt sie war, hätte er sie höchstens für sechzig gehalten – war ein Staunen. Als er sich flüsternd vorstellte – die Geige unterbrach ihr Spiel nicht –, nickte sie schwungvoll und reichte ihm eine knochige Hand. Er verstand plötzlich, daß Theos Angst der Grund war, aus dem er eine hochgewachsene Frau mit faltigem Gesicht und verkniffenen Lippen erwar tet hatte. Er hätte nicht gedacht, daß sie so zierlich sein könnte, so vital und eine solche Freude ausstrahlte. Erst jetzt bemerkte er die braune dünne Zigarre, die sie zwischen den Fingern ihrer linken Hand hielt, und lächelte fast, weil er sich an das ernstgemeinte Beharren des alten Hildesheimer erinnerte, diese Zigarren Zigarillos zu nennen. Sie bemerkte mit ihrem schweren ungarischen Akzent, daß er sich sehr verspätet hatte, was sich gut getroffen habe, denn der Unterricht sei noch nicht zu Ende. Dann stieß sie eine weißblaue Rauchwolke aus und kehrte ihm den Rücken zu. Erst als er den Buckel zwischen ihren Schulterblättern bemerkte und ihre dünnen Beine sah, die unter dem braun-weiß gestreiften Kleid mit dicken Bandagen umwickelt waren, hatte er keinen Zweifel mehr, daß Dora Sackheim eine hochbetagte Frau war.
    Schwarze Metallstäbe trennten den Eingangsbereich von einem zweiten Zimmer, in dem vor einem hohen Notenständer ein hagerer, hochgeschossener junger Mann stand, den Rücken dem Eingang zugewandt, und geigte. Er hörte nicht auf zu spielen. Dora Sackheim sagte nichts, schüttelte nur widerwillig den Kopf, schnalzte mit der Zunge, als sie auf den Geiger zuging und Michael einen Stuhl im ersten Raum nah beim Tisch zuwies. Vermutlich wurde er auch als Eßtisch genutzt, aber nun war eine gelbliche Tischdecke darüber gebreitet, die mit bläulichen Blumen bestickt war. Eine uralte Schreibmaschine und eine Vase aus venezianischem Glas standen darauf, zu deren Seiten Tropfen wie Ohren hingen und aus der drei rote Gladiolen ragten. Dieser Raum weckte mit einemmal seine Erinnerung (und mit der Erinnerung wurde der Geruch nach Fleischklößen und einem blumigem Parfüm wach). Er dachte an ein Wohnzimmer und einen neueingewanderten Jungen aus Polen, von dem der Schulleiter wollte, daß Michael ihn »adoptierte«, wo mit er meinte, daß Michael ihm beim Lernen helfen sollte. Michael hatte eingewilligt und diese Aufgabe für ein paar Monate übernommen, bis jener Junge den Stoff aufgeholt hatte, Klassenbester wurde und Michaels Unterstützung nicht mehr brauchte. Er hieß Adam und war der einzige Sohn merkwürdiger Eltern (die sich in Michaels Gedächtnis eingeprägt hatten und die dann und wann wie Figuren aus einer Geschichte zum Leben erwachten; der Vater war klein und sehr schmächtig gewesen, und Michael erinnerte sich vor allem an seine hellen, vorquellenden Augen, die ihm einen traurigen, erschrockenen Ausdruck verliehen. Die Mutter war groß und majestätisch, und sie nestelte, wenn sie an der Tür stand, an den Rändern eines zarten Taschentuchs, das aus ihrem Ärmel lugte).
    Auch damals hatte solch ein Tisch im Wohnzimmer gestanden, bedeckt mit einer mit roten Blumen bestickten Tischdecke.
    »Linke Hand ist nicht frei, nicht kraftvoll genug. Sie ist steif«, hörte Michael Dora Sackheim mit einer Stimme rufen, die einen strengen Tadel enthielt. Dann beinah ein Schrei: »Genug, genug, das reicht!« Der junge Mann ließ die Geige sinken und drehte seiner Lehrerin das Gesicht zu.
    »Das ist die Sarabande«, rief sie zornig. »Was ist mit Tempo! Andante und Leben! Von vorne!«
    Er begann wieder zu spielen, und sie klopfte ein paarmal. »Linke Hand ist heute nicht beweglich genug«, kritisierte sie. »Finger haben nicht genug Kraft.« Sie packte den lin ken Arm des jungen Mannes, den sie schüttelte, bis die Hand locker in der Luft

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