Ochajon 04 - Das Lied der Koenige
daran so komisch?« fragte Michael verblüfft.
»Requiem von Vivaldi. Das ist hundertprozentig unmöglich. Absurd. Kennen Sie Vivaldi?«
»Sehr wenig. ›Die vier Jahreszeiten‹, das Flötenkonzert, solche Stücke.«
»Vivaldi komponierte vielleicht fröhlichste Musik auf der Welt, vielleicht in Menschheitsgeschichte. Bei ihm gibt es kein Requiem. Es ist paradox. Verstehen Sie?«
»Aber was heißt das überhaupt, › geschrieben hat ‹ ? Wollte er damit sagen, daß Vivaldi ein Requiem geschrieben hat, das unbekannt ist?«
»Gut«, sagte sie abschätzig, »viele Stücke von ihm gingen verloren, das ist bekannt, hundertprozentig.«
»Und, hat man einen Teil davon gefunden?« Michael wurde hellhörig.
»Ständig werden Sachen gefunden«, winkte sie ab. »Man hat auch Stücke von Vivaldi gefunden. Ein paar Sachen. Aber nicht in den letzten Jahren. In den letzten Jahren hat man Schubert gefunden. Am Anfang des Jahrhunderts ein Trio von Schubert, mit Gitarre, das verlorengegangen war.«
»Dann hat er Sie gefragt, ob Sie glauben, daß Vivaldi ein Requiem geschrieben hat?«
»Ja«, seufzte sie erneut. »Ich habe gelacht. Ich habe gesagt: ›Genau wie ich glaube, daß Brahms Oper geschrieben hat. Gleiche Logik.‹«
Er spürte, wenn er um eine Erklärung der Analogie bit ten würde, würde sie ihn verachten. Deshalb fragte er sie, ob sie bereit wäre, sich ein Stück aus einer Komposition anzuhören und es zu identifizieren. Schon im Auto hatte er die Stelle der Aufnahme gesucht, hatte auf die Sekunde gelauert, in der jene Stelle in dem Gespräch zwischen Theo und Herzl begann, damit niemand die restlichen Gesprächsfetzen hören konnte.
Sie bat immer wieder, das Stück noch einmal hören zu dürfen. Ihre Augenbrauen hoben sich. »Schwer zu sagen, was das ist«, sagte sie und wurde still.
»Kann es ein Stück aus dem Barock sein?«
Sie zuckte die Schultern.
»Könnte es ein Stück von Vivaldi sein?«
»Es ist schwer zu sagen«, zögerte sie. »Das ist nichts, was ich schon einmal gehört habe, es ist auch kurz.«
»Aber es könnte von Vivaldi sein?«
»Könnte«, dachte sie laut, »aber was spielt es für eine Rolle. Es sind nicht viele Töne, schwer zu wissen. Es könnte auch Scarlatti oder Corelli sein. Romantik, Klassik, es könnte alles sein. Vielleicht sogar ein einfaches Lied.«
»Wie verstehen Sie Gabis Frage über Vivaldi?«
Sie verzog die Lippen zum Ausdruck der Unwissenheit. »Ich verstehe es gar nicht«, gestand sie.
»Und ein Requiem von Vivaldi gibt es nicht?«
»Nein«, sagte sie bestimmt.
»Und wenn man eines gefunden hätte?« wagte er zu fragen.
»Wir wüßten davon«, sagte sie trocken. »Das wäre nicht an uns vorübergegangen, als wäre es nichts.«
Er schien in einer Sackgasse gelandet zu sein. »Ich verstehe, daß Theo und Gabriel schon eifersüchtig aufeinander waren, als sie Kinder waren.«
»Oho, oho, und wie.«
»War Theo auf Gabriel eifersüchtig?«
Sie zögerte. »Und umgekehrt«, sagte sie schließlich. »Als sie Kinder waren, zwei Geiger, war es sehr kompliziert. Sie haben auch eine Schwester, Nita, wegen Familie Bentwich. Sie waren sehr musikalisch. Wissen Sie das?« Sie sah ihn an, und er nickte. »Beth Daniel war Eigentum von Familie Bentwich«, erklärte sie zufrieden. »Aber Nita spielt Cello. Hat auch zum Schluß in Juilliard-School studiert. Sehr musikalische Familie.« Sie wurde still und versank in sich.
»Aber irgendwann ist Theo nicht mehr zu Ihnen zurückgekehrt. Er hat vor Gabriel aufgehört.«
»Er dachte, ich schätze ihn nicht genug.« Ihre Augen verengten sich nachdenklich. »Das ist ... ich bin kein einfacher Mensch«, sagte sie entschuldigend.
»Er hat mir gesagt, daß Sie ihm geraten haben aufzuhören.«
»Ich kann mich nicht mehr erinnern«, entschuldigte sie sich wieder. »Es ist mehr als dreißig Jahre her. Aber es kann so gewesen sein. Warum sollte man Zeit verschwenden?«
»War die Arbeit mit Theo für Sie Zeitverschwendung?«
Wieder rang sie mit sich. »Sie sagen es sehr brutal. Ein guter Geiger zu sein – auch ein anderer Musiker, aber für Geiger ist es vielleicht besonders schwer – ist Frage von Charakter. Sache von Kraft. Es ist auch wichtig, wofür man Kraft einsetzt. Nicht nur Talent. Es kann großes Talent vorhanden sein, und man nutzt es nicht. Oder man macht etwas, das nicht gut ist. Aber noch mal zurück zu » Dr. Faustus «. Ich weiß nicht, in letzter Zeit denke ich viel an dieses Buch. Es gibt dort ... Vielleicht sollten
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