Ochajon 04 - Das Lied der Koenige
schweren Stuhl nach vorne beugte und mit gespannter Aufmerksamkeit lauschte. Ein Sonnenstrahl fiel auf den hellen Flaum auf seiner Wange und von dort auf eine silberne Flöte auf dem Schoß einer jungen Frau, die mit den Spitzen ihrer glatten Haare spielte. Nita hatte die Augen geschlossen. Michael verstand plötzlich, daß sie es ihm nachtrug, daß sie ihn bewußt übersah, daß sie einen Feind in ihm sah.
»Wir sprechen, wie Sie wissen, mehr oder weniger über die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts«, erinnerte Theo, »und es scheint, daß der klassische Stil der strukturierte ste, maßvollste musikalische Stil ist, der je existiert hat. Für uns, in diesem Jahrhundert, klingt er vor allem gefällig«, meinte er zynisch, »manchmal zu gefällig. Gefällig bis zur Idiotie.«
Er begann, die »Kleine Nachtmusik« zu pfeifen, hörte auf und sagte: »Mitunter fragen wir uns: Was hat die Leute damals denn so glücklich gemacht?« Wieder ließ er einen scharfen, deutliche Pfiff ertönen. »Eine unerklärliche Heiterkeit herrscht hier vor, und wo es nicht fröhlich ist«, klagte er, »finden wir eine Schönheit, die übertrieben klingen kann, zu schön. Ich kenne Menschen, denen beim klas sischen Stil übel wird, weil er allzu schön klingt und deshalb verlogen und an ein Museum für Seidentapeten erinnert, die einer vergangenen, versunkenen Welt angehören.«
Juwal lächelte beim letzten Satz, und die Flötistin ließ von ihrem Haar ab und brach in ein lautes Lachen aus, das so fort erstarb. Michael entnahm dem dramatischen, schein bar arglosen Tonfall von Theos Worten, daß er sich bemühte, eine überzeugende Argumentation aufzubauen, nur um sie widerlegen zu können.
»Es heißt, der klassische Stil ist nach dem Barock entstanden und verhält sich zum Barock wie eine Gegenströmung, wie seine Antithese, durch den Übergang von der Polyphonie und dem Wandel des Kontrapunkts zur Homophonie. Man spricht«, er zögerte, fuhr mit der Hand durch seine Haare, die er in Bemühung um Konzentration durcheinanderbrachte, »von der wichtigsten musikalischen Form, die die klassische Epoche den kommenden Generationen vererbt hat – von der Sonatensatzform. Doch dies sind Dinge, die längst bekannt sind, und darum möchte ich über eine interne Sache sprechen, über Stil«, sagte Theo, nahm die Brille ab, rieb sich die Augen und legte die Brille auf den Flügel.
»Welche menschliche Metapher, welche Geisteshaltung, welches Gefühl wurde im Zusammenhang mit klassischer Musik ausgedrückt? Das ist unsere Frage. Die Romantiker behandelten die Musik der klassischen Epoche als abstrakte Musik. Doch wenn man hinhört, wenn wir heute hinhören, dann ist die erste Frage, die uns bewußt wird, wenn wir ehr lich sind: Ist sie traurig oder fröhlich? Wir wissen heute, daß man den Molltonarten in jener Zeit die Trauer zuordnete, und das«, betonte er, »ist schon nicht mehr abstrakt.«
Er zögerte, als wartete er auf Bestätigung. Die Gesichter der jungen Zuhörer waren nachdenklich, einige nickten.
»Denn bei Bach ist das Moll nicht immer traurig, bei einem klassischen Komponisten ist es das jedoch unweiger lich. Erst seit der klassischen Epoche verbindet man die Mu sik mit Gefühlen.« Er setzte die Brille wieder auf. »Um dies zu sehen, müssen wir Werke betrachten, die im Laufe der Geschichte von verschiedenen Komponisten komponiert wurden, und die Art der jeweiligen Wortvertonung. Dann kann man analysieren, wie sie ein einzelnes Wort komponiert haben. Das Requiem, zum Beispiel, ist sehr verbreitet, und die Messe ist noch verbreiteter als das Requiem. Requiem und Messen sind vom Ende des Mittelalters bis zur heutigen Zeit vertont worden. Bei einer genauen Betrachtung der Messen zeigt sich klar und deutlich, wie sie die jeweilige Umwelt widerspiegeln, aus der sie hervorgegangen sind; nicht nur, daß jeder Komponist die Messe anders komponiert hat. Man kann sie auch in Gruppen einteilen. Barockkomponisten haben sie grundsätzlich ganz anders komponiert als Beethoven beispielsweise seine ›Missa solemnis‹. Diese Messe unterscheidet sich aus verschiedenerlei Gründen von jeder in der klassischen Epoche geschriebenen Messe. Denn Sie wissen, wir haben es auch vor eini gen Minuten gehört«, sagte er in erzählerischem Ton, als ob er zu Kindern spräche, »daß die Messe einen geregelten Ablauf hat, feste Bestandteile. Jede Messe beginnt mit dem Kyrie, dann folgt das Gloria, und nach diesen beiden Teilen kommt man zur Mitte, zum
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