Ochajon 04 - Das Lied der Koenige
Zentrum, zum wichtigsten Teil, zum Credo, das in der katholischen Religion das wesentlichste ist. Richtig?«
Einige nickten, doch der Raum war von großer Stille erfüllt, einer Stille der Konzentration, voller Ehrfurcht und Spannung.
»Das christliche Credo setzt sich aus einer Reihe von Bekenntnissen zusammen, an die der christliche Mensch glaubt«, erklärte Theo. »Es beginnt mit dem Glauben an die christliche Kirche und geht über zu einem komplexen Sachverhalt, der uns widersprüchlich erscheinen mag: Ich glaube an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn, unseren Herrn, empfangen durch den heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria, gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben ... auferstanden von den Toten. So heißt es im Glaubensbekenntnis. Ist das bekannt?«
Eine junge Frau, dunkelhaarig und sommersprossig, lächelte. Nita faltete ihre Hände und richtete ihre Augen auf einen entfernten Punkt. Es schien ihm, daß sie alles mögliche unternahm, um seinem Blick auszuweichen, und einen Moment dachte er, sie werde gleich aufstehen und das Zimmer verlassen. Was habe ich dir getan? beschwor er sie mit den Augen, als versuche er, sich einen Weg zu ihr zu bahnen, doch ihre Blicke trafen sich nicht. Er sah sie weiter an. Nicht, daß er nicht wußte, was er ihr angetan hatte. Er wußte es genau, daß er plötzlich aus ihrem Umfeld verschwunden war und daß plötzlich auch das Baby verschwunden war. Seit vorgestern hatte er nicht mit ihr gesprochen. Doch irgendwie hatte er geglaubt, war sogar eine Weile überzeugt gewesen, vielleicht hatte er es auch nur gehofft, daß sie ihm vertrauen würde. Daß sie genügend Vertrauen aufbringen würde, um zu verstehen, daß er keine Wahl hatte, daß er, um an den Ermittlungen mitarbeiten zu können, sich von ihr fernhalten mußte. Bevor er sie gesehen hatte, schien es ihm, daß die Distanz zwischen ihnen nur eine Frage der Zeit war und in ein paar Tagen überwunden sein würde. Jetzt, als er sie sah, verstand er plötzlich, daß er die Sache nicht zu Ende gedacht hatte. Er hatte sich nie überlegt, wie sie auf seine Abwesenheit reagieren würde, und hatte es vorgezogen, ihr Verhalten mit einer gewissen vagen Sicherheit vorauszusehen – sie würde schon verste hen, um was es ging, als ob sie seine Gedanken lesen könnte, als ob sie wie von selbst alles verstünde, was es zu verstehen gab.
Plötzlich sah sie ihn an, und eine leichte Röte färbte ihre blassen Wangen. Wie gegen ihren Willen stahl sich etwas wie ein Lächeln auf die Ränder ihrer Lippen. Vielleicht schien es ihm nur, daß er in ihren Augen den Funken eines Verständnisses sah und eventuell sogar eine Art Erleichterung darüber, daß er jetzt hier war.
Theo erhob sich, nahm die Brille ab, steckte sie auf seine ergrauten Haare, näherte sich der Stereoanlage auf dem Regal vor der roten Ziegelwand, neben einem erloschenen Kamin und dem Feuerholz, nahm aus der Anlage eine CD und prüfte sie aus der Nähe. »Was ich heute hier vorhabe«, sagte er zerstreut, rieb sich kräftig die Augen, legte die CD zurück, schaltete die Anlage ein, betätigte den Vorlauf, stoppte und wandte sich wieder an die Zuhörer, »ist ein Vergleich zwischen Bach und Mozart, aber nur an einer Stelle ihrer Messen, und wir werden nur die eine Stelle hören, an der es heißt ›Und er ist Mensch geworden‹. Wichtig ist vor allem, wie sie das Wort ›Mensch‹ auskomponieren. Denn damit, ohne daß sie es vielleicht selbst bemerken, ohne irgendeine Absicht, drücken sie aus, was ihnen das Menschsein bedeutet, welche Bedeutung das Wort ›Mensch‹ für sie hat, und mehr als das.« Theo vollzog eine Bewegung mit der Hand und erhob seine Stimme, sich selbst in Begeisterung versetzend. »Mit diesem einen Wort sagen sie auch, was nach ih rer Meinung mit Gott geschah, als er Mensch wurde, ob ihm Schlechtes oder Gutes widerfuhr.«
Michael bemerkte den halb geöffneten Mund Juwals, der den Blick nicht von Theo ließ.
»Der interessanteste, und zwar von allen, ist Mozart. Wir werden zunächst die Messe hören, die Mozart in den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts komponierte, als er von Salzburg nach Wien zog und selbständig zu arbeiten begann. Wir werden an dieser Stelle hören, wie er das ›Et in carnatus est ‹ vertont hat, in der Hohen Messe in c-Moll, KV 427.«
Er drückte auf den Knopf, und im Zimmer erklangen Sopran, Flöte, Oboe und Fagott. Michael schien es, als ob alle den Atem anhielten, der junge Kollege
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