Ochajon 04 - Das Lied der Koenige
wandte seinen Blick nicht von Theo, seine Augen folgten ihm, als ob er magnetisch von ihm angezogen würde, als dieser sich setzte und in demonstrativer Weise zuhörte.
»Wie würden Sie die Stimmung in diesem Abschnitt be schreiben?« fragte Theo neugierig, nachdem er den Appa rat abgestellt hatte, und Michael hörte zerstreut zu, wie unter anderem über Schönheit und Optimismus im Flötenklang gesprochen wurde.
Er hörte konzentriert und stolz zu, als Juwal sagte, daß für ihn der Sopran, insbesondere der Sopran in dieser Aufnahme, die er nicht kannte, so rein sei. »Pure Reinheit«, sagte Juwal, »das heißt«, erklärte er, »daß für ihn, für Mozart, der Mensch ein reines Wesen ist, ein schönes, eine Quelle des Optimismus, besonders, wenn man ihn an die ser Stelle mit Bach vergleicht, den wir vorher gehört haben.«
Theo schien überrascht, sagte aber schnell: »Nicht die ganze Messe ist so.« Er schwang den Zeigefinger. »Sie ist auch ein Werk voller Bitterkeit, in den ersten Noten des › Ky rie‹, nicht nur durch die Strenge und Traurigkeit der Tonart, sondern auch durch die Orchestrierung. Und im ›Qui tollis‹ tauchen Posaunen auf, aber im ›Incarnatus est‹ herrscht in der Tat ein ganz anderer Stil. Wie in der Bach-Messe, ist auch hier jeder Teil komponiert, als wäre er ein anderes Genre. Sie wissen, daß Bach fast jeden Teil dieses Credos zu einem eigenen Abschnitt gestaltet, und aus diesem Teil, ›Et incarnatus est‹ (Und er ist Mensch geworden), ›Crucifixus‹ (Gekreuzigt) und ›Et resurrexit‹ (Auferstanden) macht er drei selbständige Abschnitte.«
Theos Stimme wurde dramatischer und senkte sich zu ei nem Flüstern, als er hinzufügte: »Die beiden ersten sind sehr langsam«, er zögerte, als ob er ihnen Zeit zur Erinnerung geben wollte, »in der Art, für die Bach sich bei der Komposition der Stelle entschieden hat, wo von der Menschwerdung Gottes die Rede ist«, sagte Theo.
Michaels Blick wanderte von einem knorrigen, uralten Olivenbaum, dessen graue Blätter auf dem Fenstersims la gen, zu dem blauen Geigenkasten, nicht weit von Nitas dicht beieinanderstehenden Füßen.
»Bei Bach ist die Menschwerdung voller Trauer«, sagte Juwal laut. Theo riß den Mund auf, schaute ihn verwundert an, rieb sich die Wangen und lächelte. Er lobte die Bemerkung, bevor er wieder begann, im Ton eines Märchenerzählers zu erklären: »Was das Gefühl der Trauer ausmacht und auch bestätigt, daß es von Bach so gemeint ist, ist der Basso ostinato im Lamento-Stil. Denn«, sagte er mit angestrengter Begeisterung, »die Form des Lamento, der Klage, die dreihundert Jahre lang in Italien entwickelt wurde, von der Renaissance bis zur Romantik, ist eine Nachahmung des Weinens. Immer wenn ein Held in einer Oper stirbt, wird dieser Stil angewandt. Wenn Bach denkt, daß Gott zur Erde herabgestiegen ist – hält er dies a priori für schlecht. Wenn bei ihm der heilige Geist hinabsteigt, immer tiefer, konstruiert Bach eine tönende Metapher von hintereinan der aufgebauten Vorhängen, Bilder eines Überflusses, der immer tiefer zur Erde hinabsteigt, ein Gefühl, daß das, was der Gottheit geschieht, äußerst gefährlich ist. Bei Bach führt dies unmittelbar zur Kreuzigung. Für ihn ist › Et homo fac tus est‹ die Ursache für die Kreuzigung. In seinen Augen ist gerade das Herabsteigen der Gottheit in die Welt der Grund für die Kreuzigung. Der Augenblick der Menschwerdung hängt mit Katastrophe, Klage und Tragödie zusammen. Gut, Sie erinnern sich sicher, daß bei Haydn, in der Nelson-Messe in d-Moll, das ›Et incarnatus est‹ auch eine Soloarie ist, man hört«, betonte er fast schreiend, »einen Menschen, doch jeder wählt dazu einen ganz besonderen Menschen, und Mozart wählt sich eine Sopranistin, eine Frau.«
Wieder machte Theo vor den Augen, die ihn in offener Bewunderung ansahen, eine Pause und lächelte.
»Ein Romantiker würde sagen, daß eine virtuose Arie, wie Mozart sie hier seiner Sängerin in den Mund legt, in ih rer extrovertierten Bravour gar nicht zu den Worten paßt. Es klingt wie eine konzertante Symphonie für Sologesang und drei Instrumente – Oboe, Fagott, Flöte und Sopran. Aber man muß einmal sehen, welches Konzert hier erblüht aus den Worten ›Mensch geworden‹.« Die beiden letzten Worte betonte Theo ganz besonders und präzisierte: »In der Partitur ist dies die einzige Stelle, wo auch die Orchestrierung von Mozart stammt, den Rest zu schreiben, war er zu faul.«
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