Ochajon 04 - Das Lied der Koenige
lächelte er wieder, und mit ihm lächelten alle, als ob sie sich freuten, auf etwas so Abgedroschenes und Beliebtes wie die Arbeitsgewohnheiten Mozarts zurückzukommen. Für einen Moment löste sich etwas von der großen Spannung im Raum, dann murmelte Theo, sie würden wieder die Stelle hören, und als er auf die Knöpfe drückte, deklamierte er die Worte: »Et incarnatus est de spiritu sancto ex Maria virgine, et homo factus est.« Er hielt die Hand in der Luft zurück und rief: »Hören Sie, genau hier beginnt das ›ho, ho, ho ...‹ ohne Worte, eine langsame Koloratur, bis sie die Worte › homo factus ‹ wiederholt und mit den Worten › fac tus est‹ endet, und später kommt eine Wiederholung von ›et incarnatus est‹. Richtig?«
Er erwartete keine Antwort, drückte den Knopf, ließ den Abschnitt nochmals hören und stoppte in der Mitte.
»Passen Sie auf«, sagte Theo, »beim zweiten Mal kommt plötzlich eine große Kadenz, vor dem Abschluß steht eine ganze Kadenz, wie in einem Konzert, immer noch auf dem F von ›Et homo factus‹, und endet mit den Worten ›factus est‹. Verstehen Sie, was das bedeutet?«
Es herrschte Stille im Zimmer. Verlegene Stille, denn es war ganz offensichtlich, daß seine Zuhörer seinen Worten nicht folgen konnten. Der neue Kollege der Mordkommission entspannte seine Arme und verschränkte sie wieder unter der Brust. Nitas Augen waren geschlossen, und ihr Gesicht blieb regungslos. Sie schien zu schlafen.
»Von dem Moment an, wo das Wort ›Mensch‹ ausge sprochen wird«, sagte Theo mit sichtbarer Erregung, »nimmt die Musik eine ideale Form an, eine Art Idee der Schönheit. Es gibt hier verschiedene Echos, Symmetrien, alles, was Mozart kannte. Dieser Abschnitt ist eine der essentiellen Stellen dieser Schönheit der klassischen Welt, des klassischen Stils. Mozarts sieht den Abstieg des Heiligen Geistes in die Welt sozusagen als dessen Befreiung, nicht wie Bach, der ihn in Bewegung setzt, und der Mensch ist gleichsam eine Lösung für das Rätsel Gottes.«
Nitas Augen öffneten sich. Mit einem Blick voll konzentrierter Schärfe schaute sie auf Theo, als wunderte sie sich über etwas, an das sie sich plötzlich erinnerte. Als ob er ihren Blick fühlte und seine Anwesenheit gleichsam verschleiern wollte, erhob Theo seine Stimme und betonte jedes einzelne Wort: »Die Idee der Musik als Schönheit ist im Wort ›Mensch‹ enthalten, und es geht nicht um architektonische Schönheit, die Arten des Schönen sind Symbole für Lebensfunktionen. Die Silbe Fa hier entspricht sowohl der Tonart F-Dur, in der die Arie steht, als auch dem italienischen Wort ›fa‹ – ›macht‹. Vielleicht erinnern Sie sich, an welcher anderen Stelle Mozart dieses ›fa‹ vertont?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, sagte er schnell: »Am Schluß der Register-Arie in ›Don Giovanni‹, erinnern Sie sich, was Leporello dort singt? › Voi sapete quel que fa ‹ ( › Ihr wißt schon, was er tut‹). In der Bedeutung, entschuldigen Sie bitte, aber so wird es allgemein gesehen, von ›vögeln‹. Und so haben wir hier die volle Bedeutung der Art und Weise, wie Mozart sich zu diesem Wort ›fa‹ verhält, und diese Bedeutung hat er hier in die Messe in andere Kontexte hineingelegt: Zeugung, Geburt, Menschwerdung, Fleischwerdung, das sieht er als Eintritt in die schönste Sache der Welt. Und dazu packt er die menschliche Stimme und die In strumente in eine Art Seifenblase von etwas, was ihm, und nicht nur ihm, als wahrhaft perfekte Idee des Schönen erscheint. Das hat Mozart hier gemacht.«
Vielleicht waren es die Worte »Zeugung« und »Geburt«, die den stechenden Schmerz von neuem auslösten, dachte Michael, als er seine Hand auf den unteren Teil seiner Brust legte und sich vorzustellen versuchte, wo jetzt das Baby war, wer es wohl fütterte, und er unterbrach sich, als er eine Art kollektives Seufzen vernahm, als ob alle gleichzeitig ausgeatmet hätten. Niemand sprach, doch die allgemeine Spannung legte sich für einen Moment. Theo ließ es zu, blickte um sich, und seine Augen leuchteten beim Zusammentreffen mit Michaels Blick. Dann wandte er den Kopf zu Nita, die aussah wie eine Wachsfigur.
Michael fragte sich, wie sie so lange in ein und derselben Haltung dasitzen konnte. Hätte sie nicht ab und zu geblinzelt – er ließ kaum den Blick von ihr –, hätte er sie für bewußtlos gehalten. Er war sich nun sicher, als sie ihre Augen weit aufriß und er ihre stark vergrößerten Pupillen sah, daß
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