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Ochajon 04 - Das Lied der Koenige

Ochajon 04 - Das Lied der Koenige

Titel: Ochajon 04 - Das Lied der Koenige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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sie unter dem Einfluß von Beruhigungsmitteln stand.
    Was habe ich dir getan? murmelte er innerlich, warum verstehst du nicht, daß es nicht anders geht? Doch diese Fra gen, das war ihm klar, würde er ihr heute nicht stellen.
    »Jetzt möchte ich auf ein seltsames Phänomen zu sprechen kommen, das, wie Sie am Ende sehen werden, zum Thema gehört. Es handelt sich um die langsamen Sätze von klassischen Werken. Einige Zuhörer würden an diesen Stellen am liebsten einschlafen, wenn die Musik langsam wird und einem aufs Gemüt schlägt; so hat Haydn auch seine Symphonie ›Surprise‹ geschrieben, das heißt, an genau diesen Stellen schläft der eine oder andere ein. In langsamen Sätzen beginnen die klassischen Komponisten häufig mit einer wunderschönen Melodie, dann folgen ein zweites und drittes Thema, und dann erhebt sich plötzlich aus dem Hintergrund ein Ton, der sich immer wieder auf völlig monotone Weise wiederholt, was als ›enervierend‹ aufgefaßt wird.«
    Wieder kicherte die Flötistin.
    »Hier haben wir Mozarts Klaviersonate in a-Moll, hören wir hinein«, er drehte sich um und suchte eilig in den CDs.
    »Wer spielt?« fragte die kichernde Musikerin.
    »Perahia«, sagte Theo und drückte auf den Knopf, »langsamer Satz.«
    Er stellte nach einigen Minuten ab.
    »Brechen wir hier ab, wo sich der Ton auf einem Triller wiederholt, und hören wir noch einmal hin.«
    Er legte die CD zurück in die Hülle und nahm eine andere heraus. »Jetzt hören wir die Haffner-Symphonie, Nr. 35, im zweiten Satz, der auch ein andante ist, achten Sie bitte auf den wiederholten Ton«, sagte er, »ich werde gleich wieder abschalten. – Es gibt eine Unmenge von Sätzen, deren innere Dramatik an solch einer Sache hängt – sie baut sich auf dem Hintergrund eines Tons auf, der wiederholt wird wie eine tönende horizontale Linie ... und ich«, bekannte Theo, »habe lange überlegt, ob es in der Musik noch einen Stil gibt, der wiederholte Töne auf diese Weise geliebt hat – aber nein. Ich habe nichts gefunden. Nur in der Klassik, nur dort gibt es dieses Phänomen, und manchmal auch in schnellen Sätzen.«
    Alle schienen nachzudenken – einer der Zuhörer rutschte auf seinem Stuhl hin und her, die Flötistin runzelte die Stirn, Juwal legte einen Finger an die Lippe. Sie überlegten, ob dies tatsächlich zutraf. Theo zögerte und fuhr dann fort:
    »Und wer wie Sie ein Instrument spielt, weiß genau, wie problematisch die Wiederholung eines einzelnen Tons ist. Sogar das Führen des Bogens ist eine schwierige Angelegenheit oder auch das Drücken der Tasten. Was ist überhaupt dieses ›Eine‹? Ist es eine Linie? Ein Horizont? Es ist nicht ein Ton, es hängt rhythmisch und vom Tempo her zusammen, doch es ist keine Melodie, denn es entwickelt sich nicht, und ist auch kein Orgelpunkt. Es ist die Mitte des Werks und hängt mit einer Art Stillwerden zusammen. Wenn man diese Stelle verpaßt«, wieder erhob sich seine Stimme dramatisch, »schläft man ein. Wenn man sie aber fühlt, erscheint sie als ein Ort, an dem wir uns in einem minimalistischen Zustand befinden, und ich denke«, wieder zögerte er lange, »ich denke, daß dies mit dem Puls zusammenhängt.«
    Juwal sperrte den Mund auf.
    »Ich denke wahrhaftig, daß dies mit dem Herzen zusammenhängt.« Juwal richtete sich erregt auf seinem Stuhl auf.
    »Vom Ende der Renaissance bis zu Mozarts Vater«, erläuterte Theo, »haben viele Theoretiker das Tempo eines andante nach dem Puls bemessen, zweiundsiebzig Schläge in der Minute.«
    Michael empfand für einen Moment eine gewisse Erleichterung, da er sich daran erinnerte, wie Dora Sackheim das barocke Tempokonzept beschrieben hatte. Plötzlich waren ihm die Worte vertraut, doch er wunderte sich, daß Theo sie hier so selbstverständlich aussprach; eigentlich hätte Michael vermutet, daß Theo über Wagner sprechen und dessen Opern erklären würde. Es war verblüffend, ihn mit so viel Respekt und Begeisterung über das Barocktempo reden zu hören, und es war erstaunlich festzustellen, wie sehr er sich für dieses Thema erwärmte. Dora Sackheim hatte über Theos Fähigkeiten als Theoretiker gesprochen, aber, jetzt verstand er es, er hatte diese Aussage nicht ernstgenommen.
    »Der Puls bestimmt das Tempo der Linie! Sie haben es gewagt, ganze Sätze aufzubauen, deren Begleitung auf einer Wiederholung basiert«, rief Theo. Er setzte sich wieder auf den runden Hocker. »In der Klassik verliert die Musik zum ersten Mal jegliche

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