Ochajon 04 - Das Lied der Koenige
Male erwähnte, und auch der Begriff »Stasi« fiel wiederholt. Und ein paar Namen. Schließlich hörte Michael, wie Schenk sehr laut davon redete, daß er Einblick in seine Stasi-Akten zu nehmen gedachte.
»Wozu?« fragte Theo, ebenfalls sehr laut, in fließendem Englisch, »was haben Sie davon? Haben Sie keine Angst vor dem, was Sie dort entdecken könnten?«
Johann Schenk klopfte mit der Gabel auf die Tischkante, sein Gesicht lief dunkelrot an, und in dem großen Saal, in dem die übrigen Gäste flüsternd sprachen, war die Antwort deutlich zu vernehmen. Er müsse einfach den Inhalt der Akte kennen, rief er. Er mußte wissen, wer von seinen Freunden ihn verraten hat. Es interessierte ihn überdies sehr, was über ihn in den Akten stand, sagte er mit seiner vollen Stim me, und seine Augen folgten dem Tablett mit dem Nachtisch. Dunkelrot zitterte der Wackelpudding in den Glasschälchen. Theo beugte sich vor und flüsterte etwas. Johann Schenk warf einen bestürzten Blick auf den Tisch, an dem die Polizei saß. Auch Nita schob das Dessert von sich. Sie hat nichts davon versucht, dachte Michael, als er sah, wie sie ihre zitternde Hand nach dem Wasserkrug ausstreckte, und er fragte sich ärgerlich, wie er es hatte zulassen können, daß sie heute hier war.
»Du konntest nichts daran ändern. Sie wollte es so. Die Beerdigung ist erst übermorgen«, sagte Eli, und erst jetzt be merkte Michael, daß er unbewußt laut gesprochen hatte. Er sah sich erschrocken um. Eli musterte sein Gesicht. »Wie lange soll die Veranstaltung eigentlich dauern?« fragte er.
»Ich muß«, flüsterte Michael, »allein in dem Raum sein, wenn Theo und Nita mit Schenk arbeiten. Ich muß mit ihm allein sprechen, mit diesem Mann, diesem Johann Schenk.« Er schielte zu Ja'ir, der schwieg.
»Von mir aus geht es in Ordnung«, murmelte Eli unbehaglich. »Aber rede zuerst mit Balilati, denn Schorer hat uns, vor allem ihn«, er beugte den Kopf zu Ja'ir, »beauftragt, zumindest zu zweit jeden von ihnen zu begleiten. Das hat er angeordnet«, entschuldigte sich Eli Bachar mit sichtbarem Unbehagen. Er richtete sich schwerfällig auf, ging zur Theke in der Ecke, holte einen Wasserkrug und setzte sich wieder. Die seltsame Position, in der er wieder Platz nahm, war bedrückend. Er saß schief da, nur damit er Michael nicht ansehen mußte, so daß Michael, dem er leid tat, still wurde und selbst die Augen auf die Nebentür richtete.
»Keine Sorge, ich rufe ihn gleich an«, sagte er, als das Schweigen andauerte. Er stand auf, »ich will selbst nicht, daß Nita auch nur für einen Augenblick allein ist.« Er sah wie Johann Schenk ihn mürrisch ansah, als er an dem Tisch vorbeiging, an dem die drei saßen. Er fragte sich, was Theo ihm erzählt hatte. Er dachte bei sich, daß es einem ehemaligen Bürger der DDR wohl schon genügte, daß Polizei in der Nähe war.
Und dieser Blick, vor allem das Unbehagen, von dem sich Johann Schenk nicht befreien konnte, war wohl der Hauptgrund dafür, daß er zu Beginn der Probe die Fassung verlor. Denn bis auf zwei junge Pianisten und bis auf Theo und Nita war in dem großen Saal niemand bei der Probe anwesend. Während die übrigen Teilnehmer noch Mittagspause machten, schritten die beiden Pianisten mit dem großen Sänger zu dem, was Theo eine »Lektion« nannte. Nita saß in der hinteren rechten Ecke des Saals. Im Saal war es dunkel, gemessen an dem grellen Licht, das auf die Rasenfläche vor der weit geöffneten Tür fiel. Dort stand Michael mit Eli Bachar und mit Ja'ir. Theo saß neben dem Flügel und blätterte dem Pianisten die Noten um, der in Juwals Alter zu sein schien und auf dem Flügel die Eröffnung zur »Winterreise« spielte.
Ein paar Minuten lang wiederholte er den Eröffnungsakkord, und jedesmal wandte der große Bariton sich ihm zu und erklärte ihm etwas. Auch Theo sprach auf ihn ein – seine Bemerkungen konnte man außerhalb des Saals nicht hören, nur das Echo der Stimmen und die Klänge des Klaviers –, und schließlich ließ man ihn die ersten Akkorde am Stück spielen.
Der Sänger begann zu singen.
Eine Weile blieb Michael etwas abseits auf dem Rasen stehen. »Fremd bin ich eingezogen/Fremd zieh ich wieder aus«, hallten die Worte in ihm. »Ich kann zu meiner Reisen/ Nicht wählen mit der Zeit/Muß selbst den Weg mir wei sen/In dieser Dunkelheit.« Draußen war hellichter Tag. Eine sehr gelbe Sonne schien auf den Rasen, und im Saal wurde die Dunkelheit noch schwerer. Theo blätterte rasch die
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