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Ochajon 04 - Das Lied der Koenige

Ochajon 04 - Das Lied der Koenige

Titel: Ochajon 04 - Das Lied der Koenige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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Seite um.
    »Schreib im Vorübergehen/Ans Tor dir: ›Gute Nacht!‹/ Damit du mögest sehen/An dich hab ich gedacht«, sang der große Bariton auf seinem Platz neben dem Flügel, sah den jungen Pianisten an und verweilte für einen Moment.
    Michael hatte das Gefühl, daß er nur für ihn sang. Und weil er ganz allein dort auf der Rasenfläche vor dem Saal stand, spürte er, wie eine kalte Hand sich auf sein Herz legte, mit einem Griff, der immer fester wurde. Es war besser, in der Dunkelheit zu sein. Er ging in den Saal. Da Johann Schenk mit dem Gesicht zum Flügel stand, bemerkte er ihn nicht, als er von den gefrorenen Tränen sang. Erst nachdem die Klage über die Tränen, die aus der Brust steigen, die in der Hitze glüht, erklang, und erst nachdem die Worte »Des ganzen Winters Eis!« fielen, hielt der Sänger inne, zog ein gebügeltes Taschentuch aus seiner Tasche, wischte sich über das Gesicht und drehte sich um.
    Als er zu schreien begann, unterbrach der Pianist erschrocken sein Spiel. Theo breitete die Arme aus. »Es kommt nicht in Frage«, schrie der Mann in schlechtem Englisch, »ausgeschlossen«, tadelte er Theo und wandte sich an Nita. »Die habe ich nicht eingeladen, und vor ihnen werde ich nicht singen. Eine Probe ist eine private Sache«, schrie er erneut und klopfte auf den Flügel. »Das hier ist kein Konzert, und es kommt nicht in Frage, daß ein Außenstehender, und noch dazu ein Polizist, bei der Probe anwesend ist.«
    Michael zog sich eilig zurück und blieb bestürzt an einer abgelegenen Ecke des Rasens, auf dem auch Eli Bachar und Ja'ir warteten, stehen. Er mobilisierte all seine Kräfte, da mit seine Züge unbewegt blieben und sein lauter Atem sich legte. In diesem Moment fühlte er sich, als ob nichts in ihm wäre, außer einem Fluch. Als ob seine Existenz an sich, hier auf diesem Rasen, die Verkörperung einer Soldateska war, die die Musik befleckte. Kein Mensch, bis auf Nita, wußte, daß er die »Winterreise« so sehr liebte. Und in den Augen des großen Künstlers war die Anwesenheit eines Polizisten am Eingang des Saals ein Akt der Entweihung.
    Minuten verstrichen, bis der Gesang wieder zu hören war, und mehr als eine halbe Stunde verging, bis Johann Schenk zu dem vorletzten Lied kam. Dann wurde er still.
    Als Michael sich erneut dem Eingang näherte, hörte er, wie er Nita, die sich nicht von ihrem Platz gerührt hatte, erklärte, daß er das letzte Lied »Der Leiermann« bei der Probe nicht singen würde, denn dann würde er es am Abend nicht wieder im Konzert singen können. Das letzte Lied, sagte Johann Schenk – er sprach nun zu dem Begleiter –, dürfe man nicht mehr als einmal die Woche singen. Danach könne man nur noch schweigen.
    Gerade das letzte Lied, »Der Leiermann«, das traurigste von allen, das Lied der lebendigen Toten, hätte Michael jetzt gern aus dem dunklen Saal gehört. An diesem Tag hatte es etwas vollkommen Richtiges. Seine Verzweiflung und sein erschaudernder Verzicht, der aus der traurigen, fast erfrore nen Stimme hervorbricht, mit der der Held fragt, ob der Alte mit dem Leierkasten bereit wäre, sein Lied zu begleiten. Wie leer waren jetzt seine Arme. Jemand anderes ließ vielleicht gerade eine große Hand über die Haut seines Babys gleiten. Seines? Protestierte in ihm eine verschämte Stimme. Wer ist dein Baby? Wieso deins?
    Mutig kehrte Michael in den Saal zurück. Zu seiner Überraschung stieg der Sänger eilig von dem Holzpodest, kam auf ihn zu und setzte zu einer Entschuldigung an.
    »Eine Probe ist eine sehr intime Sache«, sagte er verlegen. »Und auch solch eine Unterweisung ist für ihn fast eine Probe. Später werden weitere vom Fernsehen aufgenommen. Dann ist es kein Problem mehr, aber jetzt!« Wieder erwähnte er, daß kein Mensch ihn darauf vorbereitet hatte, daß Sicherheitskräfte anwesend sein würden, während er sang, obwohl er davon hätte ausgehen können, wie er seufzend bemerkte, wegen Gabriel van Gelden. Er hatte schon heute morgen davon gehört. »Wie furchtbar! Wie furchtbar!« Und jetzt war er durchaus bereit, ein paar Minuten seiner Pause der Polizei zu widmen, wenn er irgendwie behilflich sein konnte. Wie talentiert doch der verstorbene van Gelden war, und noch vor kurzem hatte er ihn in Amsterdam getroffen.
    Nicht weit vom Lilian-Haus, in der Ecke, aus der das Ziegeldach eines winzigen Häuschens zu sehen war, fragte Michael ihn, ob Gabi ihm eine Rolle in einem barocken Musikstück angeboten hatte. Der Mann schien erstaunt

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