Ochajon 04 - Das Lied der Koenige
und gleichermaßen erschrocken, wie alle Menschen, die in totalitären Systemen aufgewachsen sind, reagieren, wenn sie mit Behörden in Berührung kommen. Wieder wischte er sein breites Gesicht mit einem Taschentuch ab, räusperte sich und sagte, daß Gabriel van Gelden ihm in der Tat bei ihrem letzten Treffen vor über einem Monat zwei Seiten aus einem Stück, das ihm unbekannt war, gezeigt hatte. Es war ursprünglich für einen Baß geschrieben, aber weil es heutzutage keine wirklich ernsthaften Bassisten mehr gab und es sich in der Tat um ein sensationelles Barockstück handelte, von dem Gabriel sich geweigert hatte zu sagen, was es war, hat er ihm die Baßpartie angeboten, obwohl er eigentlich Bariton war. Jetzt wollte er wissen, wie Michael davon erfahren hatte, denn die Sache wurde sehr vertraulich behandelt, er hatte deswegen sogar ein Dokument unterzeichnen müssen.
Michael fragte, ob er die beiden Seiten besaß, und der Mann erschrak. Nein, auf gar keinen Fall, Gabi van Gelden sei nicht bereit gewesen, sie aus den Händen zu geben, und hatte ihm nur die entsprechende Stelle vorgelegt.
Ob noch jemand von diesem Treffen wußte, fragte Michael.
Nein, nein, Schenk schüttelte den Kopf. Er hatte keine Ahnung, um welches Stück es ging. Aber er verließ sich auf die Worte Gabriels. Jeder wußte, daß er seriös war. Und mit Theo hatte er ein paarmal an Wagner gearbeitet und auch an Mozartopern. Und auch ihn schätzte er sehr. Und Nita sowieso. Die ganze Familie, eine wunderbare Familie. Und immer, wenn sie in Europa aufgetreten waren, auch in den Tagen, als die Mauer noch stand – er durfte ja frei reisen, wegen seiner Engagements und seines internationalen Renommees –, stand er mit ihnen in Verbindung. Selbst seine deutsche Herkunft hatten sie ihm verziehen, sagte er mit einem halben Lächeln, und darum war er bereit, die Katze im Sack zu kaufen und sich für einen Termin zu verpflichten, ohne zu wissen, worum es ging. Allein aufgrund der Infor mation, daß jemand etwas gefunden hatte, etwas Altes. Eine Sensation ohnegleichen, hatte Gabriel van Gelden ihm versichert, der nie zum Schwärmen neigte und ein zurückhaltender Mensch und sehr glaubwürdig gewesen sei.
Michael ging zurück zu Eli Bachar und Ja'ir, die vor dem Saal stehengeblieben waren. »Irgendeine Fledermaus hat hier einen Kern hingespuckt«, sagte Ja'ir gerade zu Eli und zeigte auf eine Mispel. »Siehst du, daß der hier nicht hingepflanzt wurde. Wir haben diese Bäume auch in unserem Moschaw.«
»Was ist das für ein Baum, der aussieht wie ein Weihnachtsbaum?« fragte Eli, der Michael noch nicht bemerkt hatte.
»Eine Araukarie. Wie eine Tanne ist sie immergrün«, erklärte Ja'ir.
Michael hob die Augen zum Wipfel, bemerkte die Flaggen, die auf den Strommasten wehten und räusperte sich. Beide drehten sich mit einem Schlag zu ihm um.
»Wie lange sollen wir noch hier warten?« wollte Eli Bachar wissen, »wie lange dauert es denn noch?«
»Offiziell bis um sechs«, sagte Michael gelassen, »aber ich bleibe nicht hier. Ich fahre jetzt zurück. Ich habe es so mit Balilati vereinbart, denn im Präsidium warten verschie dene Angelegenheiten auf mich. Ihr kommt später mit ih nen nach.«
Eli zog die Sonnenbrille ab, hatte vor, etwas zu sagen, aber setzte die Brille wortlos wieder auf.
»Ich will dir ein paar Fragen für Nita hierlassen«, sagte Michael zu Eli Bachar. »Du wirst sie ihr später stellen, aber nicht, wenn ihr Bruder in der Nähe ist.«
»Warum fragst du sie nicht gleich selbst?« sagte Eli und hob großzügig den Arm.
»Denn ... das ist nicht so einfach«, rang Michael mit sich. »Ich hinterlasse dir die Fragen schriftlich, du fragst und nimmst auf.«
»Du kannst sie allein befragen«, sagte Eli, »und selbst aufnehmen. Jetzt.« Er schaute auf Ja'ir, der die Augen senkte. »Ruf sie einen Moment raus«, sagte Eli zu Ja'ir.
Nita kam schwankend aus dem Saal und schloß ihre Augen vor der Sonne. So dünn und zerbrechlich sah sie aus, als sie dort am Eingang stand. Er beeilte sich und ging auf sie zu. Hinter seinem Rücken hörte er die schleppenden Schritte Ja'irs, der es allerdings nicht wagte, sich in ihrer unmittelbaren Nähe zu postieren.
»Ich kann nicht mit dir reden«, sagte er mit erstickter Stimme, »aber ich muß dich etwas fragen.«
»Warum kannst du nicht mit mir reden?« fragte sie mit ausdrucksloser Stimme und beschattete die Augen mit ihrer großen Hand. Ihre Gesichtszüge verhärteten sich.
»Auch das kann ich
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