Ochajon 04 - Das Lied der Koenige
Töten ist etwas Böses. Ich würde keinen Menschen töten.«
»Aber Sie hatten das Krankenhaus verlassen, als Felix umgebracht wurde?«
»Natürlich war ich weg«, sagte Herzl mit deutlichem Stolz und richtete seinen dünnen Hals auf. »Ich ... Es war doch das Konzert. Sollte ich das Konzert der Saisoneröffnung verpassen? Wo alle dort gespielt haben?«
»Sie waren im Konzert?« staunte Michael, faßte sich und fragte: »Wie sind Sie denn hineingekommen? Hatten Sie eine Karte?«
Herzl winkte ab. »Ich brauche keine Karte«, brummte er. »Ich komme von der Seite rein, wie immer.«
»Durch den Orchestereingang?«
»Über die Stufen am Ende des Gangs«, sagte er, als sei es das Selbstverständlichste von der Welt.
»Hat jemand Sie gesehen?«
»Wer denn?« fragte Herzt gleichgültig.
»Erinnern Sie sich an die Flötistin?« fragte er.
»Sie spielte Vivaldi«, fiel es Herzt ein. »Das Konzert ›La notte‹. Es war in Ordnung.«
»Nur in Ordnung?«
»Na ja, ich habe es schon ein paar Mal gehört. Sie war nicht besonders«, sagte er ungeduldig.
»Können Sie sich an ihr Kleid erinnern?«
Herzt sah ihn wieder an, als wäre er nicht ganz richtig im Kopf. »Sie sind ein seltsamer Vogel«, sagte er distanziert. »Was fragen Sie mich nach ihrem Kleid? Sie ist doch keine Schönheitskönigin.«
»Aber sie war schön«, sagte Michael und bereute es sofort. Du kannst dich nicht von dem Gefühl freimachen, daß ein psychisch Kranker eine Art Kind ist, sagte ihm seine in nere Stimme. Das ist dein Problem, deshalb stellst du so aus weichende Fragen. Warum fragst du ihn nicht direkt nach Beweisen und Zeugen?
»Sie hatte ein blaues Gewand an, so glitzernd, wie ein Fisch«, er zitterte plötzlich.
»Es wurde auch im Fernsehen übertragen«, brachte Michael in Erinnerung.
»In der Klinik dürfen wir nicht fernsehen. Sie erlauben es nicht. Es ist zu spät. Daheim habe ich keinen Apparat.«
»Haben Sie dort Felix gesehen?«
»Ich habe ihn nicht gesehen«, sagte Herzl trotzig. »Und wenn ich ihn gesehen hätte. Sollte er mich suchen! Warum sollte ich ihn suchen? Er war es, der im Unrecht war.«
»Aber saß er auf seinem Platz? Er hatte doch einen festen Platz.«
»Nein. Dort saßen zwei andere Leute«, sagte Herzt gekränkt. »Man gab unsere Plätze anderen Leuten. Deshalb habe ich in Reihe siebzehn gesessen. Aber es war schon in Ordnung.«
Michael bot ihm noch eine Zigarette an, und er zog sie gierig aus dem Paket und saugte an ihr, als wäre sie eine Brustwarze. Er lehnte sich zurück, senkte sein längliches, weißes Gesicht und zupfte an der dünnen Wolldecke. »Woher sollte ich wissen, daß er sterben wird?« jammerte er. »Ich habe ein halbes Jahr nicht mit ihm gesprochen. Ich habe mir gesagt, wenn er mich braucht, soll er zu mir kommen. Als die Mutter tot war, hat sich keiner mehr um den Theo gekümmert. Nur um Gabi. Es stimmt nicht, daß Gabi die Noten verdient. Wenn es zwei Buben gibt, ist es nicht recht. Sie werden es mir sagen: War ich im Recht oder nicht?« Er hob den Kopf.
»Wir haben bei Ihnen zu Hause das Bild gefunden«, sagte Michael mit Gelassenheit.
»Was für ein Bild?« interessierte sich Herzl furchtlos. »Welches Bild?«
»Das Vanitas-Bild, das bei Felix zu Hause hing. Das holländische Bild.«
»Das mit dem Schädel? Es war bei mir? In meiner Wohnung?« staunte Herzl. Mit Neugierde und ohne den Hauch von Angst sagte er: »Wie ist es denn zu mir gekommen?«
»Wir haben es im Küchenschrank hinter dem Kakao und dem Kognak gefunden.«
»Wer hat es dorthin gelegt?« fragte Herzl interessiert.
»Ich dachte, Sie wissen es vielleicht.«
»Ich habe keine Ahnung«, sagte Herzl überrascht. »Das ist aber kein guter Ort für ein Gemälde. Bei mir ist es manchmal feucht. Und keiner kümmert sich darum.«
»Wer hatte einen Schlüssel zu Ihrer Wohnung?«
»Nur Felix«, murrte Herzl. »Ich wollte ihm den Schlüs sel wegnehmen, als er so stur war, aber ich hatte beschlossen, kein Wort mehr mit ihm zu sprechen. Er hätte gemeint, ich suche einen Vorwand«, erklärte er.
Jede Minute, das wußte Michael, konnte ein unerwarte ter Anfall einsetzen. Jeden Moment konnte der klare, gleichgültige Redefluß schlagartig abreißen. Als liefe er über ein Minenfeld, erwähnte Michael den Namen des Stückes nicht, und auch Herzl nannte keine Namen. Etwas wies ihn an, vorsichtig zu sein, bis er die Einzelheiten verstand.
»Gabi war bei mir«, sagte Herzl plötzlich mit großer Müdigkeit und legte wieder seinen
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