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Ochajon 04 - Das Lied der Koenige

Ochajon 04 - Das Lied der Koenige

Titel: Ochajon 04 - Das Lied der Koenige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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absteigendes Motiv, und dann«, sein Finger folgte den Noten, während er erklärte, »kommt die zweite Stimme in der Geige. Nachdem auch sie das absteigende Motiv wiederholt, kommen die Bässe in der Nachahmung der Geigen – das ist ein Fugato«, sagte er und hob die Augen vom Papier zu Michael. »Ihr Einsatz ist ein Fugato, und erst nach acht Takten, die sie zusammenspielen, erfolgt die Rückkehr zur Eröffnung, dann kommt der Chor im Tutti, alle vier Stimmen bei den Worten › Dies irae ‹ , die«, er rieb sein Gesicht mit den Händen, blätterte um, lächelte und murrte, als würde er auf eine sehr bekannte Ge ste, fast einen Zaubertrick eines alten Bekannten stoßen, »in einer überraschenden Weise komponiert sind.«
    Er versank in sich selbst.
    »Es ist nicht zu glauben, daß er mir das vorenthalten hat«, murmelte er. »Vielleicht hatte er die Absicht, es mir zu sagen, als er aus den Niederlanden zurückkehrte«, sagte er und sah die Noten an. »Vielleicht, wenn ich ihn am Flughafen abgeholt hätte. Vielleicht hatte er es damals vor. Aber ich bin nicht gekommen, denn ich war so gekränkt. Und das hat ihn wiederum gekränkt ...«
    »Was ist überraschend an dieser Komposition?« fragte Michael und hörte, wie Balilati hinter ihm leise seufzte.
    Isi Maschiach faßte sich. »Das Überraschende dabei ist, daß das ›i‹ von ›irae‹ – sehen Sie, hier die Noten«, sein behandschuhter Finger schwebte über den ersten Notenlinien, »eine lange Silbe ist. Bei Mozart ist das ›Di‹ lang und das ›irae‹ kurz. Und Vivaldi betont genau umgekehrt. Und dann kommt etwas, das für Vivaldi sehr typisch ist! « Er nickte be geistert mit dem Kopf. »Und das sind Geigenläufe im Umfang einer Oktave. Hier drückt er die Angst vor dem Fege feuer oder so etwas aus. Wissen Sie, was das › Dies irae ‹ ist? «
    »Was meinen Sie?« wich Michael aus. Balilati stand sehr nah hinter Michael, der seinen Atem spüren konnte.
    »Der Text des ›Dies irae‹ handelt vom jüngsten Gericht, vom Tag des Zorns. ›Dies irae, dies illa, solvet saeclum in favilla, teste David cum Sibylla‹ (Tag des Zornes, Tag der Sünden, wird das Weltall sich entzünden, wie Sibyll und Da vid künden). Und wenn Sie hier schauen«, wieder schwebte der Finger, »sehen Sie, daß es bei dem Wort ›Sibylla‹ ruhig wird. Der Sturm legt sich. Und ...« Er sah das Blatt erstaunt an.
    »Was ist los?« fragte Michael gespannt.
    »Dieser Mann ...«, murmelte Isi Maschiach, als spreche er über einen widerspenstigen Verwandten. »Sehen Sie, sehen Sie das? Hier ist piano vorgeschrieben! An einer merkwürdigen Stelle. Man hätte es überhaupt nicht erwartet ...«
    »Einen Moment«, sagte Michael und drehte sich unbehaglich um. »Nach dem, was ich heute von Frau Sackheim gehört habe, wenn ich es richtig verstanden habe«, entschuldigte er sich, »gab es das im Barock nicht. Sie hat mir, glaube ich, gesagt, man hat keinen Unterschied gemacht zwischen piano und forte . Wie kann das Stück dann von Vivaldi sein?«
    Isi Maschiach kratzte sich an der Stirn. Seine Atemzüge waren ruhiger. »Es zeigt, daß das ein Zusatz ist, den jemand später hinzugefügt hat«, sagte er mit einem Zweifeln. »Denn Vivaldi hat wirklich keine Dynamik-Anweisungen vorgegeben. Kein crescendo oder forte oder piano ; wenn Vivaldi eine bestimmte Dynamik wollte, hat er es ihnen gesagt.«
    »Wem hat er es gesagt?«
    »Seinen Musikern, bei der Probe oder bei der Aufführung.«
    »Was bedeutet das? « fragte Balilati ungeduldig und setzte sich in den Chefsessel.
    »Das heißt, daß vielleicht jemand das Stück für Vivaldi kopiert und präpariert hat. Oder Vivaldi selbst hat etwas hinzugefügt. Hier«, sagte er und zeigte auf verwischte Worte am unteren Teil eines der Bögen. Er schüttelte den Kopf mit begeisterter Fassungslosigkeit. »Sehen Sie«, erklärte er geduldig. »Das ist ein Requiem, und es ist klar, daß Vivaldi es nicht unterteilt hat wie Mozart, wo die einzelnen Teile arios gestaltet sind, sondern er hat die Teile verbunden und mußte ziemlich kurz sein, eine ›Missa brevis‹. Und ich wollte sehen, wie Vivaldi das ›Lacrimosa‹ komponiert hat, und was sehe ich?« sagte er und wedelte mit der Hand über den Bogen, »ich sehe noch einmal, was für ein wunderba rer Opernkomponist er war. Das ist zwar bekannt, sowohl von seiner Oper › Armida ‹ als auch von anderen vergesse nen Opern. Und hier beweist er es auf eine sehr aufregende Weise. Denn sehen Sie«, sagte er und

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