Ochajon 04 - Das Lied der Koenige
gefunden. Es hat nicht einmal mehr Sinn, darüber nachzudenken. Er vertiefte sich in die Blätter.
Ganz langsam ging Isi Maschiach dazu über, regelmäßig zu atmen. Er sah sie nicht an, als er das Inhaliergerät in die Pappschachtel steckte. Er vermied den Blickkontakt, als er sich wieder auf den Stuhl setzte, sich den Partituren näherte, seine Lippen zusammenbiß und weiterblätterte. Seine Atem züge pfiffen, wenn er Luft holte. »Der Introitus fehlt, das hier ist das ›Dies irae‹«, sagte er nüchtern, »und wenn das echt ist, ist das ein ›Dies irae‹ von Vivaldi.«
»Was ist das, ein › Dies irae ‹ ? « fragte Balilati, und Michael achtete darauf zu schweigen, um Balilati nicht in seiner Ehre zu kränken.
»Das ... Das ist der Tag des Zorns. Das ist die Übersetzung. Das ›Dies irae‹ ist ein fester Bestandteil des Requiems«, sagte Isi Maschiach mit zittriger verträumter Stimme. »Und es ist immer der stürmischste Teil. Man kann es auch in den Requiemvertonungen von Mozart oder Verdi hören. Aber im Barock hat man es besonders stürmisch gemocht. Man liebte es, seine Gefühle zu zeigen. Und der größte Experte für Stürme und diese Dinge – was die Italiener Temporale nannten – war Vivaldi. Jeder, der sein ›La tempesta di mare‹ gehört hat, kann sehen, daß dieses ›Dies irae‹ hier von ihm stammt.«
»Sie wissen, wie es sich anhört, allein wenn Sie die No ten sehen? Müssen Sie es nicht zuerst spielen, um das zu wis sen?« zweifelte Balilati.
Isi Maschiach sah ihn erstaunt an. Sekunden vergingen, bis er die Frage verstand. »Ich lese Noten«, sagte er und hielt energisch sein weiches Kinn. »Ich begreife es nicht«, murmelte er. »Das werde ich ihm nie verzeihen«, gelobte er und brach in Tränen aus.
Balilati blähte seine Lippen und pustete laut und müde in die Welt. Er sah Michael anklagend an und blickte zur Decke, als frage er: Was machen wir jetzt?
»Wenn Sie mit der Situation nicht zurechtkommen«, sagte Michael in einem väterlichen Ton, »können wir einen Spezialisten kommen lassen. Wir haben Sachverständige, und es ist kein Problem, die Noten untersuchen zu las sen ...«
»Nicht nötig.« Isi Maschiach faßte sich. Er zog die Nase hoch, wischte sich über die Augen und hörte auf zu weinen. »Ich halte es aus. Ich kann es überprüfen und es Ihnen bestätigen.«
»Sind Sie sicher?« fragte Michael und ignorierte den war nenden Blick Balilatis, der zu sagen schien: Pokere nicht zu hoch. »Denn es ist auch kein Problem, es von einem Sachverständigen der Universität und von einem unserer Labors untersuchen zu lassen.«
»Es gibt keinen zweiten in Israel, der sich so gut im Barock auskennt wie ich«, sagte Isi Maschiach, und das Pfeifen in seinen Atemzügen war wieder zu hören. »Nachdem Gabi nicht mehr lebt, gibt es keinen zweiten, ich habe es ver dient ... Niemand wird diese Noten vor mir zu sehen bekommen ... Ich bin mir sicher ... Sie werden doch damit nicht einfach hinausgehen wollen«, rief er entsetzt, »noch dazu bei Regenwetter!«
Sie warteten ein paar Minuten. Isi Maschiach lehnte sich zurück und benutzte erneut sein Inhaliergerät. Dann blätterte er weiter behutsam in den Heften. Seine Lippen bewegten sich hin und wieder wie die Lippen eines Betenden. Er sah sich das letzte Heft an.
»Es ist ein Requiem. Und da die ersten Seiten fehlen, fehlt der ganze Teil des › Kyrie ‹ . Anscheinend ist das erste Heft ver lorengegangen. Das zweite ist vorhanden, das dritte ist vorhanden, und es ist noch ein Teil vom vierten da. Das letzte fehlt. Insgesamt sind drei Teile erhalten, der zweite, der dritte und ein Teil des vierten, der mit einem Offertorium beginnt und in der Mitte abreißt. Sehen Sie?« Er blätterte achtsam. »Jedes Heft enthält acht vollständige Bögen, das heißt sechzehn Seiten. Und hier haben wir zweiunddreißig Seiten von zwei Heften und vier mit dem Offertorium. Es fehlt das Eröffnungsblatt und die Signatur. Aber es gibt Anzeichen, daß es von Vivaldi sein könnte, ein Stück von Vivaldi ohne Kopf und ohne Beine«, sagte er schließlich. »Es trägt seine Handschrift und hat auch seine Schärfe. Sein ›Dies irae‹, sehen Sie«, er zeigte auf das erste Heft, »ist ein allegro . Er beginnt nur mit den ersten Geigen, in d-Moll, der Tonart des Requiems von Mozart.«
Seine Finger hämmerten auf den Tisch, er summte freudlos eine kurze Melodie.
»Dies ist ein aufsteigender d-Moll-Akkord als Sechzehntel-Tremolo, dann kommt ein
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