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Ochajon 04 - Das Lied der Koenige

Ochajon 04 - Das Lied der Koenige

Titel: Ochajon 04 - Das Lied der Koenige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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beugte sich tief über die Blätter, »das ›Lacrimosa‹ ist ein Duett für Sopran und Mezzosopran, das im Sekundkanon geschrieben ist. Das bedeutet«, er wandte sich an Balilati, der ihn mit verschlossener Miene ansah, »daß die zweite Stimme einen Ton über dem Ton der ersten Stimme einsetzt. Es ist nämlich bekannt, daß die Italiener solche Kanons liebten. Es gibt auch einen im › Stabat mater ‹ von Pergolesi. Sie haben es gehört, wissen Sie es noch?« erinnerte er Michael mit einem Ton der Vertrautheit, die Michaels Unbehagen gegenüber Balilati verstärkte.
    »Die Italiener sahen in solch einem Sekundkanon etwas, das große Trauer enthielt. Bei diesem Stück, sehen Sie«, er zeigte auf die verwischten Worte am Rand des Blattes und hielt die Lupe darüber, »gibt es auch ein Solo für Oboe d'amore. Sehen Sie? Das Wort › Oboe ‹ wurde von diesem Tin tenklecks überdeckt. Und das ist auch ganz typisch, denn durch die Feder, die man bei jeder Seite, die man zu schreiben begann, eintauchte, gibt es diese Tropfen. Aber das Wort ›obligato‹ ist geblieben, das heißt, daß man dieses Instrument nicht weglassen darf. Das scheint mir ein Zusatz von Vivaldi auf der Handschrift des Kopisten. Und das ist interessant, aber nicht ungewöhnlich, denn es ist bekannt, daß die Oboe ein Instrument der Trauer ist.«
    »Was ist eine Oboe d'amore?« fragte Michael.
    »Eine Alt-Oboe. Ein wunderbares Instrument. Und sehen Sie, es ist interessant, daß das Solo für dieses Instrument unter allen Notenlinien auftaucht, was zeigt, daß er es vielleicht separat bearbeitet hat.«
    Wieder blätterte er aufgeregt vom Anfang zum Ende und vom Ende zum Anfang. »Ich sehe«, sagte er plötzlich, wischte über sein Gesicht und rieb kräftig seine Augen unter den Brillengläsern, bis sie sich röteten, »daß er nicht die ganze Komposition niedergeschrieben hat, denn Teile sind übersprungen.«
    Sein Finger verweilte in der Luft, schwebte über den Blät tern und landete auf dem Schreibtisch.
    »Ich erkläre es mir folgendermaßen«, sagte er mit sichtbarer Erregung, »er hatte mehrere Mäzene, Vivaldi. Und es gab darunter einen Kardinal ... Ich erinnere mich nicht mehr an seinen Namen ... Aber es ist bekannt, daß es 1722 irgendeine Geschichte mit einer Messe gab ... in den Dokumenten steht, daß man ein feierliches Gebet spielte ... Vielleicht war es für Ferdinand de Medici, den großen Fürsten der Toskana. Und in der Tat weiß man heute nicht, um welches Gebet es sich handelt. Anscheinend war es eine der Messen, bei denen man nicht alles auskomponiert hat. Man nannte das Insertion. Das heißt, für eine Totenmesse schrieb der Komponist das, worauf man sich für dieses Ereignis geeinigt hatte, und den Rest sang der Priester in einer alten Melodie, die in dem jeweiligen Orden üblich war. Sie können das in einer Melodie aus dem 13. bis 14. Jahrhundert, einer Monodie, hören.«
    »Was ist eine Monodie?«
    »Eine Melodie für eine Stimme. Sehen Sie?« Er sprach aufgeregt, sein Atem war flach und schnell. »Man sieht, daß die Eröffnung des Offertoriums nicht komponiert ist. Und er geht direkt über zum nächsten ... Hier«, er klopfte auf den Tisch. »Das ist ein Sanctus. Hier, das ist ein Beweis für Sie.«
    »Beweis wofür?« verlangte Balilati mit harter Stimme zu wissen.
    »Daß es wirklich von Vivaldi ist. Denn dieses Sanctus ist eine regelrechte Kopie des Beginns von Vivaldis Gloria. Und es ist logisch, daß er es von dort übernimmt, denn es hat dieselbe Anzahl an Silben und dieselbe Tonart und vielleicht ...« Er wurde nachdenklich und still.
    »Vielleicht?« hakte Balilati nach.
    »Vielleicht sehen wir nur einen Teil der Partitur, und im Original gibt es auch Pauken und Trompeten.«
    »Ich verstehe nicht, wie das ein Beweis dafür sein soll«, sagte Balilati zornig, »daß Sie es von woanders kennen. So haben Sie doch gesagt, oder nicht?« Er schüttelte seine Hand.
    Isi Maschiach sah durch ihn hindurch, als träume er, und plötzlich schüttelte er sich. »Was verstehen Sie denn daran nicht?«
    »Na, was das beweisen soll?«
    »Sie haben sich ständig selbst bestohlen, haben sich selbst zitiert. Vivaldi war schon zu Lebzeiten in ganz Europa berühmt. Kein Zeitgenosse hätte es gewagt, etwas aus dem Gloria von Vivaldi für ein anderes Stück zu verwenden. Nur der Komponist selbst, wie Bach es zu tun pflegte, bei dem Teile seiner Kantaten einen Weg fanden in seine Hohe Messe oder in die Matthäus-Passion. Solche

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