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Ochajon 04 - Das Lied der Koenige

Ochajon 04 - Das Lied der Koenige

Titel: Ochajon 04 - Das Lied der Koenige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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hinzuhören, doch er verstand die Antwort nicht. Er hörte nur ein dumpfes Murmeln aus Theos Mund, der den dünnen Mantel über seiner Schulter abstreifte und zu seinen Füßen legte.
    »Takt 1«, rief der erste Geiger. »Was? Von Anfang an?« fragte die Musikerin verbittert, die hinter den Kesselpauken stand. »Number one«, sagte Theo und hob die Hände. »Vier Takte, Tutti, dann ein Cellosolo, der Reihe nach, wir machen den ersten Satz, dann sehen wir weiter.«
    Zwei Tontechniker zogen Kabel durch den Saal und stellten sich unterhalb der Bühne auf. Michael drehte sich um; am Rand des Saals, über den letzten Sitzen des Ranges, brannte hinter einer großen Glasscheibe Licht. Dahinter waren drei Gestalten zu erkennen, die sich lautlos wie in einem Aquarium bewegten. Sie winkten den Tontechnikern im Saal. Diese knieten sich hin und verlegten Elektrokabel unterhalb der Bühne. Theo van Gelden senkte die Arme, und das ganze Orchester spielte die ersten Takte. Mit dem ersten Akkord hüpfte Idos Kopf in der Wippe, seine Augen weiteten sich, und seine Lippen spreizten sich. Michael beeilte sich und legte ihm eine Hand auf die Wange, mit der anderen Hand suchte er in der Wippe nach dem Schnuller, den er Ido in den Mund steckte. Ido entspannte sich, die Augen blieben jedoch weit offen. Er schien konzentriert dem Einsatz des Cellos zu lauschen, das mit dem rezitativischen Anfangsthema begann.
    Theo unterbrach nach ein paar Takten. »Was hat Brahms hier vorgegeben? Er schrieb in der Art eines Rezitativs, aber immer a tempo . Nicht so frei, Nita, ich bitte dich. Von Anfang an!« sagte er und klatschte in die Hände. Das Orchester wiederholte die ersten Takte. Nita spielte mit geschlossenen Lippen die Noten, die sie in den letzten Wochen Tag und Nacht geübt hatte. Dreiundzwanzig Takte, an deren Ende – er wußte es, sie hörte nicht auf, davon zu reden – ein langes f war, das zu einem e wurde. Dann setzten die vier Hörner und die Klarinette ein, Theo unterbrach sie nach zwei Takten und machte eine Bemerkung. Das Baby in dem Tragekorb regte sich. Michael legte seine Hand auf den Bauch der Kleinen, als Theo rief: »Noch einmal, Solocello von dem f an, vom f bis zum e, neuer Einsatz.«
    Diesmal ließ er sie länger spielen. Gabriel legte den Bogen über die Geige, glitt über die Saiten und deutete das Thema mit einem warmen hellen Klang an. Es war das er ste Mal, daß Michael ihn das Solo spielen hörte. Nita hatte ihm erzählt, was für eine Karriere er als Sologeiger vor sich hatte, wenn er nicht vom »Wahn der historischen Aufführungspraxis«, wie sie es nannte, befallen worden wäre. Er erinnerte sich auch daran, daß sie gesagt hatte: »Er kann Brahms nicht mehr ausstehen. Für ihn gibt es nur noch Barockmusik! Er hat einen Ekel vor dem ganzen 19. Jahrhundert. Aber vielleicht wird er unseretwegen dazu zurückkehren. Immerhin war er bereit, mit uns zu spielen.«
    Die Klänge der Geige fand Michael wunderschön, doch sie berührten ihn nicht wie die Klänge von Oistrach auf der Aufnahme, die ihm seit Jahren vertraut war. Er kritisierte sich für seine Unbeweglichkeit. Dann fiel das Orchester ein, um das Thema ganz zu spielen. Im dritten Takt klopfte Theo auf seine Schenkel und schrie: »Nein! Nein! Nein! So geht das nicht! So geht das ganz und gar nicht!«
    Das Orchester hörte auf zu spielen. Der Techniker stieg auf die Bühne, rückte die Mikrophone zurecht und machte dem Mann hinter der Scheibe ein Zeichen.
    »Was ist das hier?« fragte Theo und erhob sich von seinem hohen Stuhl. »Wir haben hier Triolen der Geigen und der Flöten, anstelle der zwei Viertel müssen Sie drei Viertel zusammenziehen! Ich bitte darum! Ich bitte um Verge bung«, sagte er und verbeugte sich vor den Bratschen. »Ver zeihen Sie mir, daß ich Sie zurück zur Grundschule schicke. Lassen Sie jetzt die Gefühle und Brahms einmal ganz beiseite. Ich bitte Sie kurzerhand darum, wieder zählen zu lernen! Sie alle! Oboen, Klarinetten, Trompeten und Brat schen! « Er verweilte für einen Moment und hob die Hand in Richtung Bläser. »Sie alle! Sie lassen sich dazu hinreißen, die zwei Viertel mit den Triolen zu spielen, und das ist verwirrend! Ich sage es noch einmal: Hören Sie nicht auf die Triolen der Flöten und Geigen. Nicht hinhören! Nein! Awram«, beugte er sich zum ersten Bratschisten vor. »Hören Sie, was ich sage? Nicht auf die Triolen hören! « Der erste Bratschist nickte, wandte sich an die Gruppe der Mu siker hinter sich und

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