Ochajon 04 - Das Lied der Koenige
mit finste rer Miene um, aber er sagte kein Wort. Michael beeilte sich, beide Kinder aus dem Saal zu tragen. Er sah auf die Uhr und beschloß in der Eingangshalle zu warten, bis die Probe zu Ende war. Hinter den geschlossenen Türen konnte er hören, wie der erste Satz von Anfang an gespielt wurde, von Theos Kritik unterbrochen. Immer wieder wiederholten sie einzelne Takte, während er Noa das Fläschchen gab. Er lauschte der Musik und den lauten Sauggeräuschen und den Seufzern gleichermaßen, die sie in den kurzen Trinkpausen ausstieß. Ido war tatsächlich eingeschlafen, und darum konnte Michael Noa, die nun still war, auf dem Arm behalten und sich in der Nähe der Türen aufhalten, vor denen er auf und ab ging, bis er die ausgestoßene Luft hörte, und gleichzeitig die Musik hören. Er dachte daran, daß er sich nie vorgestellt hätte, er könne jemals so hautnah Zeuge eines musikalischen Schaffensprozesses werden, diese Knochenarbeit erleben, die prosaischen Momente des Raschelns von Plastiktüten, die Pausen und herabgezogenen Mundwinkel, die Klagen, die später am Abend, im Rampenlicht, in die Au gen beispielsweise einer Becky Pomeranz Tränen treiben würde.
Er hörte Theo rufen: »Genug für heute! Okay, wir sind fertig«, und räumte den Platz vor der Tür. Er setzte sich in einen Sessel und wartete mit den beiden Babys, bis Nita mit dem Cello in Händen aus dem Saal kam. »Warte nicht auf mich!« bat sie. »Es war ein Fehler, dich mit den Kindern herzubestellen. Wir müssen noch bleiben und ein paar Dinge klären, und wenn Theo von ein paar Dingen spricht, kann man nie wissen, wie lange es dauert. Wenn Gabriel oder Theo mich nicht nach Hause bringen, komme ich mit einem Taxi«, fügte sie beim Anblick seines offenkundigen Zögerns hinzu. »Mir geht es gut«, beruhigte sie ihn. »Wenn ich arbeite, geht es mir gut«, versicherte sie.
Ein paar Stunden später, als er neben Gabriels Leiche kniete, dachte er zum ersten Mal an das, was ihn noch lange beschäftigen würde. Weniger als drei Stunden waren vergangen zwischen seinem beharrlichen Pfeifen des Themas des ersten Satzes des Doppelkonzerts und der quälenden Frage, was anders gelaufen wäre, wenn er nicht auf sie gehört hätte. Was hätte er verhindern können? Hätte er überhaupt etwas verhindern können, wenn er an dem Ort gewartet hätte, an dem Gabriel van Gelden ermordet worden war?
5
Morendo cantabile*
Die Leiche lag im Flur hinter der Bühne unterhalb des schmalen Betonpfeilers. Die obere Körperhälfte schwamm in einer Lache Blut, das aus dem klaffenden Hals stammte. Michael, dem sich schon viele grauenhafte Anblicke geboten hatten, sah nur für einen kurzen Moment auf den Kopf, der beinahe gänzlich vom Körper getrennt war. Nur ein schmaler Hautstreifen im Nacken verband ihn noch mit den Schultern. Er schien Michael an einem seidenen Faden zu hängen und schon im nächsten Augenblick gänzlich vom Rumpf zu fallen, in den Flur zu rollen, von dort auf die Bühne und schließlich Stufe für Stufe die Treppe hinunter in den Saal zu kullern.
Als er vor der Leiche stand, den Blick abkehrte und den Brechreiz, der in ihm aufzusteigen drohte, unterdrückte, durchfuhr ihn der Gedanke, daß es das erste Mal war, daß er das Mordopfer kurze Zeit vor dessen Tod wohlbehalten erlebt hatte, noch dazu musizierend. Überhaupt stand er zum ersten Mal in seinem Leben vor der Leiche eines Menschen, mit dem er kurz zuvor in Kontakt gewesen war. Dieser Gedanke, dieses Staunen an sich, machte ihn nervös, und er erkannte dumpf, daß diesmal alles anders sein würde, daß er in diesen Fall auf eine Art und Weise involviert war, die nicht korrekt und richtig war, und daß es folglich besser war, wenn er schon jetzt außer Zila noch einen weiteren Kollegen benachrichtigen würde, einen, der den Fall übernehmen konnte, falls er selbst zusammenbrach. Wieso zusammenbrechen, dachte er erbost, seit wann brach er zusammen, und was hatte dieses Wort überhaupt zu bedeuten? Zusammenbrechen, umkippen, dachte er empört. Hieß es, daß er damit rechnete, seine Fähigkeit, logisch zu denken, einzubüßen? Daß er kollabierte? Daß er das Bewußtsein verlor? Man konnte meinen, er wäre hier der Betroffene, und nicht Gabriel oder Nita.
Mit dem Gedanken an Nita – es war nicht einmal ein Gedanke, eher ein sekundenlanger Stich durch ein gehetztes Bewußtsein – und ihre Verwandtschaft mit diesem Mann, dessen Kehle aufgeschlitzt war und der in einer Blutlache
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