Ochajon 04 - Das Lied der Koenige
Lächeln erwiderte. »Wir müssen es notieren«, verkün dete er lauthals, als er sie in den Tragekorb legte, den er vom Wagen genommen hatte. »Wir müssen aufschreiben, daß du heute – was für ein Datum haben wir überhaupt, den zwan zigsten, den einundzwanzigsten –, auf jeden Fall im September 1994 im Alter von ... sagen wir sechs Wochen, zum ersten Mal bewußt gelächelt hast.« Er trug beide Kinder in Richtung Tür. »Auf geht's«, sagte er feierlich, »wir gehen Nita erzählen, daß du mich angelächelt hast. Vielleicht schenkst du ihr ja auch ein Lächeln.«
Er ging durch den Künstlereingang in den Saal, dessen schwere Holztür er mit der Schulter aufschob, weil er in einer Hand die Wippe hielt und in der zweiten die Tragetasche trug, in deren Ecke er die Tasche gestopft hatte, die die Windeln, die Fläschchen und den Rest der Babysachen enthielt. Er setzte sich in die zweite Reihe, an das Ende, das nahe an der Eingangstür des halbdunklen Saals lag, und stellte Wippe und Tragetasche zu seinen beiden Seiten ab. Erst dann sah er auf die Bühne. Die Probe sollte schon vor ein paar Minuten beendet sein, aber sie schien noch voll in Gang zu sein. Auf den Sitzen ringsumher lagen Instrumentenkästen, vor Michael stand ein geöffneter Geigenkoffer, in dessen Deckel Photos klebten und in dem Ersatzsaiten und ein Lappen neben den Ausbuchtungen steckten, die für das Instrument vorgegeben waren. Über einem Sitz hing lässig eine leichte Jacke, unter der ein weiterer Kasten zum Vorschein kam. Das Orchester saß in voller Besetzung auf der Bühne. Ein paar Musiker hatten die Instrumentenkästen un ter ihre Sitze geschoben, andere hatten sie vor der Bühne ab gestellt.
Auf der Kante eines hohen, schmalen Stuhls saß Theo van Gelden, stampfte mit den Füßen und klatschte mehrmals in die Hände. »Meine Herrschaften!« rief er. »Wir gehen hier nicht raus, bis die Synkopen sitzen.« Ein Lärm des Protests stieg aus den hinteren Reihen auf. Der erste Geiger, ein weiß haariger Mann, auf dessen Nase eine Brille prangte, klopfte mit dem Bogen auf den Rücken seiner Geige. »Meine Herrschaften«, sagte er, »wir können sowieso nicht aufhören, bevor die Tontechniker die Klangprobe nicht abgeschlossen haben. Wir fangen einfach morgen später an.« Es war noch hier und da ein Nörgeln zu hören, ein sehr junger Mann, der eine Klarinette hielt, ging auf Theo zu, wandte sich an die Musiker und schrie: »Warum benehmt ihr euch, als würdet ihr bei der Krankenkasse arbeiten?« Einer aus der entfern ten Reihe der Geiger machte eine Bemerkung. Alle um ihn herum lachten. »Hört euch den Grünschnabel an!« rief der Trompeter von hinten. »So waren wir alle einmal.« Wieder ertönten Lachsalven.
Nita beschattete die Augen, sah in den Saal und winkte Michael mit dem Arm. Sie und Gabriel saßen im vorderen Teil der Bühne in unmittelbarer Nähe Theos. Aus der Entfernung schien ihre untere Körperhälfte mit dem weiten Rock, den das Cello ausbuchtete, eine Art bläulicher Hügel zu sein. Jetzt, als er sie so sah, erschien sie ihm wunderschön. Strahlend schön. Für einen Moment nahm er den Geruch ihrer Haut wahr. Vor zwei Tagen, als sie in der Küchentür ihrer Wohnung gçgeneinandergestoßen waren, hatte er sie plötzlich geküßt. Ihre Lippen waren sanft gewesen, und ihre völlige Hingabe hatte ihn überrascht. Nita hatte die Angewohnheit, die Menschen, die ihr nahestan den, zu berühren. Von jenem Moment an berührte sie ihn ständig. Es waren sanfte, kleine Berührungen. Als sie ihn am nächsten Tag ansah, strahlte ihr Gesicht hingebungsvoll und begeistert, und in der Freude ihres Körpers über ihn lag etwas Verheißungsvolles – vor allem nach der spröden Art Awigails. Sie könnte mein Zuhause werden, dachte er jetzt mit glücklichem Staunen. Er war stolz, wie nah sie einander waren.
Gabriel hielt den Geigenkörper zwischen Schulter und Wange und strich eifrig den Bogen mit Kolophonium ein. Ein Musiker drehte sich um und stieß gegen den Cellokasten, der zwischen Gabriel und Nita lag. »Kann ich ihn hier wegbringen?« fragte er laut. Nita nickte. Er hob den Cellokasten auf und trug ihn auf den Armen durch den Künstlereingang hinter die Bühne. Theo sah seinen Bruder ungeduldig an. Gabriel legte das Kolophonium in den Kasten unter seinem Stuhl. Der erste Geiger stand neben Theo und sah ihn erwartungsvoll an.
Theo sagte: »Einen Augenblick noch!«
»Von Anfang an?« fragte der erste Geiger. Michael gab sich Mühe
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