Ochajon 04 - Das Lied der Koenige
wiederholte die Anweisung. »Nicht auf die Triolen hören, zählen! Zählen bitte! Noch mal ab der 40. Vom Ende der Geige an. Gabriel, ich will eine ausdrucksstarke Geige, keine historische.«
Gabriel sagte etwas. Theo stieg von seinem Stuhl und stand vor seinem Bruder. »Gabriel«, sagte Theo sehr laut und mit drohendem Ton. »Was soll ich deiner Meinung nach tun? Soll ich wie Bernstein vor seinem Konzert mit Glenn Gould dastehen? Soll ich dem Publikum sagen, daß ich in dem langsamen Tempo spiele, das du bestimmt hast, ganz im Gegensatz zu meinem Verständnis und meiner musikalischen Auffassung? Ist es das, was du willst?!« Etwas Künstliches, nahezu Mutwilliges, lag in dieser Aussage, als ob Theo die Szene inszeniert hätte, um sich eine Gelegenheit zu verschaffen, eine Anekdote über Bernstein und Glenn Gould zum besten zu geben.
Wieder machte Gabriel eine Bemerkung.
»In der nächsten Probe«, bestimmte Theo. Gabriel blähte die Wangen, zog an den Rändern seines Barts und blies geräuschvoll aus.
»Wir fangen an!« rief Theo. Sie spielten ein paar Takte, als die großen Holztüren sich weit öffneten, grelles Licht im Saal anging und alle erstarrten. Theo drehte den Kopf mit dem Ausdruck eines Schocks in Richtung Saaleingang und starrte ein paar Sekunden lang auf die Horde, die da hereinstürmte, auf die Scheinwerfer, auf die Fernsehkameras und auf die junge Frau, die den Arm von Teddy Kollek, der mit langsamen, schwerfälligen Schritten den Saal betrat, stützte. Er ging mit schleppendem Schritt – sein Kopf war gesenkt-, ohne zu den Seiten zu schauen, als ob er überprüfte, ob er korrekt über den Marmorboden ging. Die Schöße seines zerdrückten blauen Staubmantels wippten, als er behutsam die Stufen hoch auf die Logenplätze im Saal zuging. Sein Arm ruhte auf dem Arm der jungen Frau, die laut sprach. Dort oben angekommen, ließ er sich auf den Sitz fallen. Hinter ihm kamen zwei Kameraleute und zwei weitere Personen in grauen Arbeitsanzügen, die riesige Scheinwerfer schoben.
»Entschuldigung, was soll das?« wollte Theo wissen, setzte die Brille ab und sprang von der Bühne. Das Baby regte sich in der Tragetasche, Ido schmatzte laut und rieb sich mit den kleinen Fäusten die Augen. »Was soll das?! « rief Theo erneut. Er stand am Rand der Reihe, in der Teddy Kol lek saß, der ihn freundlich grüßte und seine Hand Richtung Bühne schwang. »Guten Tag allerseits! « sagte Teddy Kollek mit zerstreuter Autorität. Er legte seinen Arm auf die Lehne des Sitzes.
»Aber wir haben hier eine Orchesterprobe!« rief Theo entgeistert.
»Hat denn niemand Bescheid gesagt?« fragte die junge Frau und schloß ihr helles Jackett. »Das deutsche Fernsehen ist hier. Hier wird ein Interview mit Herrn Kollek für das deutsche Fernsehen aufgenommen. Der Termin steht schon seit ein paar Wochen fest«, sagte sie erbost.
»Mich hat niemand informiert!« verkündete Theo mit ei nem Ton, in dem Beleidigung und Ungläubigkeit für das Ge schehen mitschwangen. »Es wird nicht lange dauern«, sagte die Frau, »höchstens eine halbe Stunde«, versprach sie.
Theo breitete die Hände aus. Teddy Kollek verschränkte die Arme und starrte mit deutlichem Desinteresse vor sich hin.
»Wo ist der Manager? Wo ist Sisovic? Warum hat er sich nicht mit mir abgesprochen?« sagte Theo und begann die Stufen Richtung Bühne hinabzusteigen. Er war kreidebleich. Er stand vor der Bühne und sah auf das Orchester, drehte sich zu Teddy Kollek, der sein schweres Gesicht auf seine große Handfläche stützte und dessen Augen halb geschlossen waren. Im Saal waren deutlich die deutschen Sätze der Frau zu hören, auf deren Gesicht die Kamera gerichtet war. Theo stemmte die Arme in die Seiten und ließ sie in einer Geste der Machtlosigkeit sinken. »Pause!« verkündete er und setzte seine Brille auf.
Der erste Geiger erhob sich hastig, beugte sich zu Theo und flüsterte ihm etwas zu.
»Meine Herrschaften!« sagte Theo. »Ich weiß, daß wir den Zeitplan nicht einhalten. Ich bitte um eine weitere Stunde. Dann werden wir halt heute einmal eine Stunde später aufhören. Wir müssen den ersten Satz abschließen.«
An der Unzufriedenheit der Musiker bestand kein Zwei fel. Die Paukerin zog ihr weites T-Shirt straff und fischte de monstrativ und geräuschvoll nach Plastiktüten, die sie hin ter der Pauke versteckt hatte. Ohne Eile erhoben sich die Musiker von ihren Plätzen. Michael packte die Griffe der Wippe mit einer Hand, die der Tragetasche mit
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