Ochajon 05 - Denn die Seele ist in deiner Hand
Rosenstein wussten nichts von Nesja, das war keine Absicht, sie haben nichts getan, Gott behüte«, und als er sah, dass das Entsetzen noch nicht aus ihrem Blick gewichen war und ihre dünnen Lippen bebten, legte er ihr beschwörend seine Hand auf den Arm: »Verstehen Sie, wir wollen den Rosensteins nicht schaden oder sie verletzen, wir wollen nur wissen, ob das etwas damit zu tun hat, dass Zohra Baschari ermordet wurde und Nesja verschwunden ist.«
»Sie«, Esther Chajun straffte sich und schüttelte seine Hand von ihrem Arm ab, »ich werd Ihnen mal was sagen – Sie finden meine Nesja, und dann sag ich Ihnen, was ich weiß. Wenn Sie sie mir nicht finden, sag ich keinen Ton.«
»Frau Chajun«, entgegnete ihr Michael in bestimmendem Ton, »ich versichere Ihnen –« Der Beeper in seiner Hemdbrusttasche ging los. Er blickte auf die Anzeige: »Dringend Zila anrufen.«
»Was? Was ist das? Was haben sie gesagt?«, fragte Esther Cha jun mit zitternder Stimme, »haben sie sie gefunden? Zeigen Sie mir, was da steht«, und sie riss ihm das Gerät aus der Hand. »Wer ist Zila?« Ihre Hand mit dem Gerät fuchtelte mit drohender Gebärde in seine Richtung. »Was heißt das?«
»Frau Chajun«, sagte Michael in beruhigendem Ton und streckte die Hand aus, um ihr den Sender sanft abzunehmen, »wenn Sie mich zu einem Telefon bringen könnten – es gibt doch ein Telefon bei Ihnen, richtig?«, und fuhr im gleichen beruhigend gelassenen Ton, in dem man zu einem verstörten Kind spricht, fort, »wenn Sie mich Zila anrufen lassen – sie ist die Polizistin in der Zentrale, bei der alle Informationen über die Suche zusammenlaufen –, dann werden wir klüger sein.«
Schweigend legte sie das Gerät in seine offene Hand und deutete mit dem Kopf auf das Regal am anderen Ende des Raumes. Ein bläulicher Telefonapparat stand dort auf einem weißen Spitzendeckchen, dicht neben einem alten Schwarzweißfoto von Braut und Bräutigam. Auch im Brautkleid und trotz des Glanzes, den ihr der Fotograf zu verleihen versucht hatte, sah sie immer noch – wie Michael nicht umhin konnte zu bemerken, während er Zilas Nummer wählte und sein Herzklopfen ignorierte – wie eine abgearbeitete Frau aus, deren erzwungenes Lächeln auf den Fotografen gerichtet war und nicht auf den mageren Mann mit den zarten Zügen, der an ihrer Seite stand.
Zwölftes Kapitel
Sie trafen noch vor der Ambulanz ein. Michael stützte Esther Chajun bis zum Eingang des verlassenen Kiosks. Von dem Augen blick an, als sie die Wohnung verlassen hatten, bis zu seinem Auto und auch danach auf der Jehudastraße, als er vor dem Kiosk anhielt und sie beide aus dem Wagen stiegen, hatte sie sich mit ihrem ganzen Gewicht auf seinen Arm gestützt, ihr breites, vor Anstrengung glänzendes Gesicht dicht an seiner Schulter. Ihre hektisch keuchenden Atemzüge waren von leisen Seufzern und beschwörendem Gemurmel, »Gott erbarme, Gott erbarme dich«, unterbrochen. Um das kleine Steingebäude herum hatten sich bereits Dutzende Leute geschart. Eine Funkstreife parkte auf dem schmalen Bürgersteig, daneben ein Wagen der Spurensicherung, und weiter oben in der Straße entfernte sich das Auto des Hundeführers gerade in Richtung Hebroner Landstraße. Einen Moment verharrte Esther Chajun auf der Stelle, auf Michaels Arm gestützt, und blickte sich unter den Menschen um, die ihr den Weg freigaben, bis ihr Blick auf Balilati stieß, worauf sich ihr Gemurmel und ihre Seufzer verstärkten. Er stand auf dem Bürgersteig nahe dem Kiosk, gab Befehle, das Terrain zu räumen, schwenkte seine Arme und reservierte mit seinem Körper den Parkplatz für den Krankenwagen, der schon unterwegs war.
Erst vor der grünen Eisentür schüttelte Esther Chajun ihre Betäubung ab. Sie ließ Michaels Arm fallen, straffte sich mit einem Schlag und marschierte mit schnellen, ausholenden Schritten in das dunkle Innere des Häuschens, wobei sie auf ihrem Weg einen großen Zweig abbrach, der von dem alten Rosenstrauch herabbaumelte. Ein zarter, rosa Regen von Blütenblättern ergoss sich über die Schwelle, bevor Michael, ihr auf den Fersen, den modrigen Raum betrat, in dem ein Geruch nach Erbrochenem, Schimmel und Urin stand.
Nur die Taschenlampe, die er sich von dem Beamten der Spu rensicherung ausgeliehen hatte, erhellte den Raum ein wenig, gegen dessen Dunkelheit die herbstlichen Sonnenstrahlen nichts auszurichten vermochten, auch nachdem die Verriegelungen der rostig grünen Eisenläden aufgebrochen worden
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