Ochajon 05 - Denn die Seele ist in deiner Hand
nach Tali hat, holt mich immer, um mit ihr ein Album anzuschauen. Es gibt ein Album für jedes Lebensjahr, wie viel dieses Kind fotografiert worden ist! Unberufen«, murmelte sie, wandte ihr Gesicht ab und stieß ein leises, aber scharfes »tfu« wie zur Abwehr böser Geister aus.
»Auch Bilder von Frau Rosenstein, als sie jung war?«
»Nicht von vorher, bevor sie nach Israel gekommen sind, nur von nachher. Was für eine Schönheit sie war!«
»Und wie ist es zum Beispiel mit Bildern von der Schwangerschaft?«, wagte Michael die Frage.
»Warum fragen Sie das?«, verlangte sie plötzlich zu wissen und setzte zornig hinzu: »Keine Bilder aus Haifa, nur von Jerusalem gibt’s welche. Sie sind wegen der Überschwemmung ge gangen, die in ihrer Wohnung war, und nachher sind sie nach Jerusalem gezogen. Und alle ihre Andenken – nichts ist übrig geblieben.«
Einen Augenblick herrschte Schweigen zwischen ihnen.
»Hat das was mit meiner Nesja zu tun?«, wurde sie plötzlich hellhörig, wandte ihm ruckartig ihr Gesicht zu, zog die Augenbrauen zusammen und blickte ihn mit lauerndem Misstrauen an, »denn wenn es nicht dazugehört, warum fragen Sie dann?«
»Es besteht keine große Ähnlichkeit«, bekannte Michael, »zwi schen der Tochter und den Eltern, verstehen Sie?«
»Und wenn schon«, wischte sie das wütend beiseite, »das besagt gar nichts. Als ich sie kennen gelernt habe, war Tali ein großes Mädchen, das war schon nach dem Militärdienst, am Anfang hab ich mir Sorgen gemacht, dass sie nicht heiraten wird, sie ist nicht so ... ihrer Mutter nicht ähnlich ... und nun, schauen Sie sich an, wie sie zurechtkommt.«
»Ihre Mutter ist eine schöne Frau«, merkte Michael an.
»Frau Rosenstein? Wie ... wie eine Königin, und wenn Sie sie gesehen hätten, wo sie noch jünger war, was für blonde Haare – golden. Pures Gold.«
»Und die Tochter, Tali, schaut auch dem Vater nicht ähnlich«, unternahm Michael einen weiteren Vorstoß.
»Sagen Sie mal«, Esther Chajun sah ihn direkt an, und ein Schleier von Misstrauen trübte ihre Augen. »Was haben Sie eigentlich? Was suchen Sie? Hat das was mit Nesja zu tun oder nicht?«
»Wir wissen es noch nicht«, räumte er ein, »aber vielleicht hängt es mit dem tragischen Fall von Zohra Baschari zusammen.«
»Wie? Wie denn?«, beharrte Esther Chajun.
»Ich versuche nur zu klären, ob sie ihre leibliche Tochter ist«, antwortete Michael bescheiden wie zur Entschuldigung.
»Was reden Sie da?!«, fuhr sie hoch, »wenn Sie gesehen hätten, wie sie ihre Eltern liebt, was macht das denn, wenn sie ihnen nicht ähnlich schaut? Auch Nesja sieht ihrem Vater überhaupt nicht ähnlich, und mir auch nicht, alle ...« Ihre Stimme brach.
Er fürchtete, dass sie in Tränen ausbrechen würde, doch ihre zusammengekniffenen Augen blieben misstrauisch grollend auf ihn geheftet. »Warum suchen Sie sie nicht, meine Nesja«, schleu derte sie ihm entgegen, »warum beschäftigen Sie sich jetzt mit dem allem, das ist Unsinn, das hat bestimmt alles dieser eine da« – sie wies mit ihrem Kopf zur Tür, als stünde Balilati dahinter – »erfunden, haben nicht alle auch so schon genug Probleme? Reicht es denn nicht?«
»Frau Chajun«, setzte Michael wieder an, nachdem er zwei mal tief durchgeatmet hatte, »ich will Ihnen die Wahrheit sagen, aber Sie müssen sie streng vertraulich für sich behalten – kann ich mich auf Sie verlassen?«
Sie nickte schweigend und presste die Lippen aufeinander. Ihre groben Hände verschränkte sie mit einer Geste demonstrativer Erwartung unter ihrer schweren Brust, als wollte sie von vornherein kundtun, dass es wohl kaum einen Sinn hatte.
»Wir haben den Verdacht, dass ... dass Nesjas Verschwinden wirklich mit dem Fall von Zohra Baschari zusammenhängt«, sagte er langsam und sah, wie ihr Gesicht erblasste.
»Ich hab’s gewusst«, murmelte Esther Chajun, »ich hab’s gleich gewusst, von Anfang an, Sie sagen mir, dass ... auch sie ... wie Zohra?«
»Nein, nein, nicht so«, erwiderte Michael hastig, »ich bin mir sicher, ich hoffe ... ich bin sicher, dass wir sie lebend und unverletzt finden werden, aber wir haben gedacht, der Mord an Zohra Baschari könne möglicherweise irgendwie mit dem jemenitischen Baby zusammenhängen, das vor zweiundfünfzig Jahren verschwunden ist, das Baby, das ... von dem wir denken, es könnte vielleicht ...« Beim Anblick ihrer Augen, die fassungslos an ihm hingen, beeilte er sich, beruhigendere Worte zu finden. »Herr und Frau
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