Ochajon 05 - Denn die Seele ist in deiner Hand
›Flüchtlinge‹ oder ›Holocaust‹«, erklärte er an Ada gewandt, deren Blick wie gebannt an ihm hing, als hörte sie etwas Neues. »Jedenfalls erinnere ich mich, wie sie, meine Mutter, zu mir sagte, dass ich mich anständig benehmen und nicht neben ihrer Wohnung unten spielen sollte. Und ich spielte furchtbar gern ausgerechnet unter der Treppe, und nicht nur ich, alle Kinder vom Viertel ... damals gab es noch wirkliche Viertel mit spielenden Kindern, nicht wie jetzt, wo ich sehe, wie meine Tochter ihren Jungen zu Freunden und Gruppen fährt wie in Amerika ...« Er leerte sein Glas mit einem Schluck, schenkte sich wieder ein und sah beide fragend an. Michael hielt die Hand über sein Glas, und Ada schüttelte verneinend den Kopf. »Ich kann mich erinnern, dass ich mich vor ihnen fürchtete«, sagte Schorr und musterte die Flasche, »sie waren so ... wie die Hasen, schauten dich die ganze Zeit an, als ob du ihnen Wunder was tun würdest. Offenbar waren sie da mals ein junges Paar, aber mir kamen sie richtig alt vor, und dann waren sie auch noch ... sie waren so weißlich, nicht nur einfach blass. Beide, dünn und weiß, als hätte man sie in Mehl ge taucht ... in diesen Zeiten damals hat man uns nicht so viel erzählt, nichts wurde wirklich deutlich ausgesprochen, du weißt ja, wie es war ... es schwirrten Wörter durch die Luft wie Auschwitz, Buchenwald, Ghetto, ›Hitler, getilgt sei sein Name‹ begleitet von Ausspucken, ›dort‹, ›Bunker‹, ›Mengele‹. Mengele war der furcht erregendste Name, denn immer wenn sie gesagt hatten, ›und sie waren bei Mengele‹, wurde es ganz still. Und ein paarmal, als sie ›Mengele‹ sagten, hörte ich meine Mutter seufzen, was heißt hier seufzen, erstickt stöhnen. Wir, die Kinder, spionierten unseren Eltern nach, belauschten ihre Gespräche, ohne dass sie es wussten, um etwas zu verstehen, irgendeine Geschichte zusammenzukriegen, und etwas blieb immer hängen – Kinder ergänzen die fehlenden Einzelheiten mit Hilfe der Fantasie. Das ›Dort‹ war so eine Art Platz, ein anderer Ort«, Schorr lächelte nachdenklich und traurig, »und ich hörte meine Mutter über sie, über dieses Paar, sagen, dass es schrecklich sei mitanzuschauen, wie traurig und einsam sie seien, und mein Vater sagte zu ihr, sie würden schon noch eine Familie und Kinder haben, er war immer ein Op timist, außer in seinen letzten Jahren, doch meine Mutter sagte zu ihm, ›keine Chance, wovon redest du überhaupt, sie war bei Mengele, sie hat nichts mehr drin‹. Bis heute kann ich mich genau an diese Worte erinnern, ich hatte Albträume deswegen, ich dachte ... Ich malte mir aus, wie sie rein gar nichts unter der Haut hatte, nicht dass ich gewusst hätte, was sie dort im Bauch hätte haben sollen ...« Schorr verstummte und schaute in sein Glas, drehte und wendete es zwischen seinen Fingern und ließ die restliche Flüssigkeit darin kreisen.
»Das ist wirklich so, so funktioniert die Fantasie bei Kindern«, sagte Ada, um das Schweigen zu brechen, und Schorr ließ das Glas sinken und nickte. »Na gut, gib mir doch eine Zigarette«, bat er Michael entschuldigend, »eine nach dem Essen.« Er beugte sich über das Feuerzeug. »Wenigstens nicht wie du, du hattest schon die zweite«, knurrte er, »hast du überhaupt keinen Einfluss auf ihn?« Ada lächelte und rieb an ihrem Blusenausschnitt, wie um einen unsichtbaren Fleck zu entfernen.
»Jedenfalls hatten sie keine Kinder. Sie wohnten lange Zeit da unten, ich ging in die erste Klasse und die zweite, und sie waren immer noch in der Kellerwohnung, und hin und wieder gab es Diskussionen zwischen meiner Mutter und ihrer Schwester, die wollte, dass sie von ihnen Miete verlangte, doch meine Mutter war unter keinen Umständen bereit dazu. Sie sagte jedes Mal zu ihr: ›Bei so viel Leid, kommt nicht in Frage.‹ Und eines Tages ... eines Tages tauchte dort ein Kind auf. Ich erinnere mich, dass ich von der Schule heimkam und ein Kind da war, ein Baby, das aber schon ein bisschen laufen und sprechen konnte. Ein mageres Baby mit großen blauen Augen und einer Art kleinen Tolle, so eine blonde Locke vorn, und Beinchen wie Streichhölzer, daran erinnere ich mich. Ich fragte meine Mutter, ob das ihr Baby sei, und sie sagte zu mir: ›Sie hüten es ein bisschen, bis es wieder nach Hause zurück kann.‹ Ihr wart damals gerade erst geboren«, sagte er und blickte Ada dabei an.
»Sie ist jünger«, korrigierte ihn Michael, »sie ist erst fünfzig
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