Ochajon 05 - Denn die Seele ist in deiner Hand
geboren.«
»Ein wahres Baby«, lachte Schorr, »ihr könnt es also nicht wissen, aber in jenem Winter im Jahre fünfzig gab es schreckliche Überschwemmungen in Tel Aviv und im Norden, alles war überflutet, auch die Durchgangslager standen unter Wasser und wurden evakuiert. Jerusalem war zwar nicht mehr unter Belagerung, es fing an, sich sozusagen ein wenig zu erholen, aber es herrschte Not, es war unmöglich, überhaupt normales Essen zu kriegen, das heißt, wer nicht auf den Schwarzmarkt ging. Und wegen den Überschwemmungen schickte man die Kinder aus den Durchgangslagern weg, evakuierte dort ganze Familien und trennte sie zum Teil von den Kindern, man musste einen Platz für sie finden. Sie schickten sie zu allen möglichen Pflegefamilien, da mit sie sich vorläufig um sie kümmerten, und dieses Kind, das Baby, Moischele nannten sie ihn, landete, wobei ich bis heute nicht weiß, wie und warum, bei jenem Paar, und du kannst mich erschlagen, aber ich weiß nicht mehr, wie sie hießen, wie ausra diert, und es gibt niemanden mehr, den man fragen könnte ... Eine gute Frau war meine Mutter, da kann man nichts sagen. Ich erinnere mich, dass sie ihnen immer die Eier gebracht hat, die ihre Schwester für mich besorgte, alles ging halbe-halbe, eine Hälfte für uns, die andere für sie. Sie kümmerten sich also um das Kind. Wir hörten Lachen aus der Wohnung da unten, man musste auch nicht mehr so leise sein, man konnte wieder Verstecken ums Haus herum spielen mit den Kindern aus dem Viertel wie vorher, bevor sie gekommen waren. Die Frau lächelte mich nun an, und ich erinnere mich, wie sie das Baby hielt, alles war ... als wäre auf einmal alles in Ordnung. Doch dann, vor Purim war es, ich kann mich so gut daran erinnern, weil meine Mutter an der Nähmaschine saß und mir ein Räuberkostüm nähte, damals war Purim noch eine große Sache, man kaufte keine fertigen Kostüme, man hat sie ganz allein mit aller Ernsthaftigkeit angefertigt. Es gab einen Wettbewerb in den Schulen, Kostümpreise für die Gewinner, egal, sogar ihr erinnert euch wahrscheinlich an solche Dinge. Und da kam mein Vater herein, ganz blass und zitternd, blickte mich einen Moment an und schickte mich etwas holen, ich erinnere mich nicht mehr, was es war, vielleicht etwas aus dem Laden, sie schickten mich immer irgendwohin, wenn sie allein re den wollten. Ich wusste sofort, dass es ein Vorwand war, um mich loszuwerden, also blieb ich hinter der Tür stehen, aber allzu viel bekam ich nicht mit. Sie sprachen Jiddisch, was ich nicht verstehe, und ich kann mich nur an das Wort ›Kanada‹ erinnern und danach den Lärm eines umfallenden Stuhles. Ich ging hinein, als ob nichts gewesen wäre, und keiner fragte mich, wo die Sachen aus dem Laden seien, sie hatten es vollkommen vergessen. Meine Mutter war eine weiche Frau ...«, Schorr besann sich einen Augenblick, »butterweich, die nie ihre Stimme gegen jemanden erhob und die ihr ganzes kurzes und hartes Leben lang nur wollte, dass es allen gut ginge, aber wirklich, nicht wie diese Familie Benesch, bei denen alles nur aufgesetzt ist, sie war wirklich eine wunderbare Frau, eine, die vorbehaltlos allen half, die es nicht im Mindesten kümmerte, woher die Menschen kamen, das heißt, welcher Volksgruppe sie angehörten, kurz, wie sagt der Dichter? Meine selige Mutter war eine wahre Gerechte. Und plötzlich sehe ich sie da an der Nähmaschine stehen, kerzengerade aufgerichtet, und sie sagt: ›Auf gar keinen Fall, kommt nicht in Frage. Ein Wort ist ein Wort.‹ ›Aber wer soll sie aufhalten?‹, fragte sie mein Vater, so, als bestünde überhaupt keine Chance. Auch er war ein guter Mensch«, beeilte sich Schorr hinzuzuset zen, »aber er war weniger ... er hatte nicht ihre Kraft. Er arbei tete ebenfalls schwer, aber sie ... sie war etwas Besonderes, mit samt ihrer Milde«, sagte Schorr und wischte sich mit der Stoffserviette über die Augen, und für einen Moment erschrak Michael. Wenn ihrem Wesen nach verschlossene und zurückhaltende Menschen sich mit einem Mal so viel Offenheit erlaubten, wer weiß, wohin das führen mochte, selbst hier, in der mattgelblichen Beleuchtung eines französischen Restaurants, zur Nachtstunde, an den Sukkotfeiertagen.
Doch Schorr seufzte nur und wandte sich an Ada: »Du weißt das nicht, aber je älter man wird, desto mehr sehnen wir uns nach unseren toten Eltern oder nach der Kindheit ... Am Ende erscheint sie einem nahezu das Wichtigste im Leben überhaupt – aber was schwatze
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