Ochajon 05 - Denn die Seele ist in deiner Hand
Zynismus des Pathologen angesteckt. »Gesichtszertrümme rung und Erwürgen, das heißt, in umgekehrter Reihenfolge, Bruch im Zungenknochen, gebrochenes Genick, zerrissene Hauptschlag ader und eine Schwangerschaft von zwölf Wochen?«
Dr. Solomon legte seinen Kittel ab und nickte.
»Sechs bis sieben Uhr abends? Vorgestern? Das bedeutet, vor ...« Michael warf einen Blick auf seine Uhr, »wenn es jetzt zwei Uhr morgens ist, dann vor dreißig oder einunddreißig Stunden?«
»Sie sagen es«, erwiderte der Pathologe und setzte die Hornbrille ab. Seine Augen starrten auf die weiße Wand ihm gegenüber, als sähen sie, was dahinter lag, »aber Sie werden den schriftlichen Bericht noch erhalten.« Damit verfiel er wieder in seinen singenden Tonfall von vorher, während er die Brillengläser mit einem Papierhandtuch polierte, das er von dem Spender neben dem Stahlschrank abgerissen hatte: »Sie werden ihn gleich in der Früh erhalten, als Allererstes am Morgen.«
Drittes Kapitel
Seit fast einer halben Stunde schon stand Natanael Baschari am Eingang der Synagoge »Die heimgekehrten Söhne«, Ecke Harake vet- und Naftalistraße, und die ganze Welt ärgerte ihn. Er wartete auf seine Schwester Zohra, wegen der er einen wichtigen Termin abgesagt hatte, doch sie kam nicht. Vielleicht hatte sie sich in der Zeit oder im Tag geirrt, denn Zohra war kein Mensch, der ohne Mitteilung ein Treffen versäumte, und vergesslich war sie auch nicht. Und trotzdem bedauerte er es, dass er sie nicht in der Früh an die Verabredung, die sie für zwei Uhr nachmittags ausgemacht hatten, erinnert hatte. Dieses Treffen war ihr selbst wichtig gewesen, da sie mit ihm zusammen die Akustik im Gebetssaal überprüfen wollte und auch im Vorderhof, wo bereits die fertig deko rierte Hütte für Sukkot aufgebaut war. Jetzt vor dem Tor, während die Minuten immer länger wurden, erschien ihm ihr Plan, heute – am Vorabend des Laubhüttenfestes – zu singen, noch absurder als zu dem Zeitpunkt, zu dem sie ihn zum ersten Mal ausgesprochen hatte.
Was war nur in sie gefahren, in Zohra, die nun schon seit Mo naten mit ihm über ein Solokonzert für die Bewohner des Viertels debattierte – zuerst hatte sie erwogen, es in Lindas Haus zu veranstalten, und danach, als sie sich die Synagoge dafür aussuchte, hatte sie Natanael die Idee mit glühender Begeisterung unterbrei tet und war wegen seiner abschätzigen Reaktion tief beleidigt und erzürnt gewesen. Auch als er sich für seinen Spott entschuldigte und sich mit einer gemäßigten Ablehnung begnügte, verrauchte ihr Zorn nicht, bis er nachgab und sich damit einverstanden erklärte, dass sie am Abend vor dem Fest ihre »folkloristische Vision«, wie er es spöttisch nannte, zum Besten gab. Diese Auseinandersetzung, die seiner Einwilligung vorausgegangen war, verstörte ihn nun umso mehr: Vielleicht verurteilte ihn Zohra in ihrem Inneren wirk lich, vielleicht boykottierte sie ihn sogar und würde ihm nie wieder so nahe stehen wie früher.
Die »Vision« beinhaltete die Errichtung eines kleinen Stadtteilmuseums in einem Flügel der Synagoge, in dem Zohra beabsichtigte, den »Ruhm und Glanz jüdisch-jemenitischer Kultur« zu präsentieren, wie sie es ausdrückte – »einer Kultur, die Taten von Bestien wie dem Mörder des Ministerpräsidenten und dem berüchtigten Rabbi Meschulam vollkommen in Vergessenheit ge raten ließen«. In dem großen Keller der Synagoge lagerten bereits Kisten mit Fotos, die sie seit ihrer Kindheit gesammelt hatte, Ori ginalschmuck, den sie von ihrer Großmutter, Mutter und von ihren Tanten erhalten (sowie gelegentlich gekauft) hatte, Stoffbahnen und bestickte Kleider, Möbel und Küchengeschirr, Handwerkszeug von Goldschmieden, Schneidern und Schustern, darunter eine alte Zange und ein kleiner Klöppel, auch Eisendrähte und ein kleiner Bohrer, die zur Ausbesserung von Tongeschirr verwendet worden waren, um Sprünge zu flicken. All das hatte Zohra in wechselnden Ausstellungen im rückwärtigen Flügel der Synagoge zu zeigen geplant, um damit »eine Palette von Themen jemenitischen Lebens« zu veranschaulichen. Er hatte stillschweigend geschluckt, dass sie an die Mitglieder des Ver waltungsrates der Synagoge herangetreten war und dass ihre Pläne, trotz seiner bekannten Vorbehalte, in seiner Abwesenheit für gut befunden worden waren, und er hatte versucht, ihr seinen grundsätzlichen Standpunkt logisch auseinander zu setzen, seine Befürchtungen, dass ein Museum für
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